Nazizeit in alter Rawe-Werkhalle dokumentieren

Artikel aus der Glocke vom 14. November 2013

Rheda-Wiedenbrück (vw). Das Backsteingebäude liegt an der Nonenstraße in Rheda gleich hinter der Eisenbahnüberführung parallel zum ehemaligen Gleisanschluss des Simonswerks. Die beiden Sozialdemokraten Jochen Sänger und Brigitte Frisch-Linnhoff wollen es unter Denkmalschutz stellen lassen. Nicht, weil es sich optisch nahtlos in die lange Liste sehenswerter historischer Fachwerkhäuser in der Stadt einfügen würde. Sondern, weil es ein steinernder Zeitzeuge dunkler Vergangenheit sei: ein ehemaliges Frauenzuchthaus der Nationalsozialisten.

Das Gebäude, das heute gewerblich genutzt wird, sei noch weitgehend im Originalzustand erhalten. Für Sänger und Frisch-Linnhoff, die die Unterschutzstellung bei der Unteren Denkmalbehörde der Stadt beantragt haben, ist es ein „zeitgeschichtlich und regional bedeutsames Objekt“, das dazu dienen kann, „den nationalsozialistischen Unrechtsstaat sowie die Verquickung von Industrie und Nationalsozialismus hier vor Ort“ zu veranschaulichen.

Deshalb wollen die beiden Antragsteller auch geprüft wissen, „ob mittel- oder langfristig diese Räumlichkeiten in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe zu einem Dokumentationszentrum umgestaltet werden können“. In dem Dokumentationszentrum solle über das Frauenzuchthaus und die dortigen Arbeitsbedingungen der Frauen „gesammelt, geforscht, publiziert und ausgestellt“ werden.

Für Jochen Sänger und Brigitte Frisch-Linnhoff liegen weitere Thema auf der Hand, mit denen sich das Dokuzentrum befassen könnte:

– Industrie und Nationalsozialismus am Beispiel der Firma Rawe,

– Zwangsarbeit im Nationalsozialismus unter Einbeziehung der örtlichen Situation in Wirtschaft und Landwirtschaft,

– Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg (zum Beispiel in der Alten Emstorschule),

– jüdisches Leben in Rheda und Wiedenbrück sowie Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus.

Es müsse einmal „das Ganze in den Blick genommen werden“, meinen die beiden. Und jetzt gebe es noch Menschen, die man als Zeitzeugen befragen könne.

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Nur ein Drittel kriminell

Rheda-Wiedenbrück (vw). Der Vorstand der Gefangenenlager Oberems in Gütersloh habe das Gebäude an der Nonenstraße im Jahr 1942 als eine Gefangenenarbeitsstelle auf dem Gelände der Firma Rawe errichten lassen, schreiben Sänger und Frisch-Linnhoff in ihrem Antrag auf Denkmalschutz und zur Einrichtung eines Dokumentationszentrums.

Bis zum Kriegsende habe dieses Lager als Frauenzuchthaus Bestand gehabt. Die dort aus politischen Gründen oder wegen Wehrkraftzersetzung einsitzenden Gefangenen seien nach Kriegsende von den amerikanischen Streitkräften entlassen worden. Die aus anderen Gründen Verurteilten seien in andere Strafanstalten verlegt worden, haben die Recherchen der beiden ergeben.

Im September 1942 seien aus dem Frauenzuchthaus Cottbus die ersten Frauen nach Rheda verlegt worden. Unter den Gefangenen seien lediglich „ein Drittel normale Kriminelle“ gewesen. Arbeiten hätten alle inhaftierten Frauen müssen: vorrangig in der Textilherstellung bei Rawe, aber auch beim Simonswerk in der Munitionsproduktion. Um „dem Ganzen“ Rechnung zu tragen, weisen Sänger und Frisch-Linnhoff aber darauf hin, dass es zum Beispiel auch bei der Westag und bei Knöbel in Wiedenbrück Zwangsarbeiter gegeben habe. Darüber hinaus in etlichen kleineren Wirtschaftsbetrieben und in der Landwirtschaft – „was noch nicht erforscht wurde“, wie die Sozialdemokratin feststellt.

„Hier ist viel passiert“ in der Zeit des Nationalsozialismus’, das einmal umfassend dokumentiert werden müsse, sagt Jochen Sänger, eben „als Ganzes“. Dazu gehörten selbstverständlich auch die positiven Berichte von ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern über ihre Behandlung in Rheda und Wiedenbrück. Aber dabei handele es sich, wie der seit 25 Jahren mit der Aufarbeitung der lokalen Nazi-Vergangenheit befasste Sozialdemokrat sagt, „nur um Einzelfälle“.