Neues aus dem Kreisarchiv zur Geschichte der Arbeiterbewegung

Über 170 Jahre waren die Statuten des ehemaligen „Allgemeinen Hülfsverein“ zu Rheda verschollen. Die Verwaltungsakten der Stadt Rheda-Wiedenbrück enthielten nur spärliche Informationen darüber, dass sich in den damals politisch unruhigen Jahren vor der März-Revolution 1848 in Rheda ein Verein gebildet hatte, der sich für Arbeiterrechte einsetzte. Da diskutierten Menschen unserer Stadt darüber, wie durch gemeinsames Wirken der Wohlstand und die Bildung für alle verbessert werden könne. Diese Begebenheiten sind eng mit Dr. Otto Lüning verbunden, der ab November 1840 als „practischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer“ in Rheda wohnte und eine Praxis eröffnete. Ein Jahr zuvor hatte er sein Studium – erst in Greifswald, dann in Breslau – beendet und promoviert. Er war ein glühender Verfechter neuer Ideen, heute mit dem Begriff Frühsozialismus umschrieben. Seine Wohnung und seine Arztpraxis befanden sich in der heutigen Berliner Straße 21. Lüning war der Kopf der früh-sozialistischen Bewegung in OWL. Als gebürtiger Gütersloher verfügte er in „Nazareth“ über gute Kontakte, gemeinsam baute man ein Netzwerk mit Bielefelder und Mindener Gleichgesinnten auf. Lüning verfasste politische Gedichte und schrieb für gesellschaftskritische Zeitschriften, dies im Zeitalter der Zensur. Sein Freundes- und Bekanntenkreis in Rheda wuchs ständig, der damalige Lindenplatz – wo das alte Rathaus stand – wurde von Bürgerinnen und Bürger der Stadt nur noch Doktorplatz genannt.
Lüning wollte Verbesserungen für das Volk, insbesondere für diejenigen, die keine Stimme hatten. Er, Kammer-Rath Rötteken, Apotheker Steiff, Bleicher H.L. Veerhoff, Lohgerber M. Reiner und weitere Bürger bemühten sich, einen Verein für die arbeitenden Klassen zu bilden. Die Stimmung in Rheda schilderte „Ein Reisender“ im „Westphälischen Dampfboot“: „An einem Sonntag Morgen in Rheda angekommen erfuhr ich, daß am Nachmittag die erste Versammlung eines für das Amt Rheda zu bildenden Localvereins gehalten werden sollte, und ich beschloß, dieser Versammlung beizuwohnen. Schon vorher hörte ich viel von der Machination einer Clique sprechen, die auf jede Weise im Geheimen gegen die Bildung des Vereins intriguire; diese saubere Clique suche das Volk gegen den Verein mißtrauisch zu machen und aufzuhetzen, sie suche und solle sich sogar bemühen, seitens der Landräthlichen Behörde ein directes Einschreiten zu bewirken. Auf näheres Befragen erfuhr ich, daß alle Vernünftigen über diese geheimen Agitationen nur mitleidig lächtelten, und das besagte Clique nur aus persönlicher Feindschaft gegen die Unterzeichner des Aufrufs, und aus verletzter Eitelkeit, weil man sie nämlich nicht auch zu Rathe gezogen, im Stillen so wütheten.“
Jetzt können die damaligen Geschehnisse durch einen glücklichen Aktenfund wesentlich ergänzt werden. Erfreulich ist, dass der bisher vermisste Statutenentwurf aufgefunden wurde.
Am 26. Januar 1845 fand im Rathaussaal der Stadt Rheda die erste Diskussion über die Bildung eines Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen statt, an welcher nach dem „Westphälischen Dampfboot“ mehrere hundert Personen aus allen Ständen teilnahmen.
Dem Chef im Kreishaus, Landrat Johann Friedrich Malotki von Trzebiatowski wurde zugetragen, welche Diskussionen in Rheda geführt wurden und das im Rhedaer Rathaus eine Versammlung stattfinden sollte. Da der Rhedaer Amtmann Schwenger dies in seinem monatlichen Bericht jedoch nicht erwähnte, erfolgte am 30. Januar 1845 die offizielle Aufforderung zur Berichterstattung.
Die Antwort von Emil Schwenger belegt, dass dieser eine führende Rolle hatte. Wörtlich heißt es: „Nachdem hier Orths hie und da die Bildung eines Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen für dringend nothwendig erachtetet worden, trat ich mit mehreren edeldenkenden Männern hiesiger Stadt zusammen um über die Stiftung eines solchen Vereins zu berathen. Bei dem allgemeinen Anklange, welchen dieses Unternehmen fand, wurde beschlossen die geeigneten Schritte zu thun, namentliches vorab für zweckmäßig erachtet einen öffentlichen Aufruf an die Bürger zu erlassen und dieselben zur Stiftung eines solchen Vereins zu einer auf Sonntag den 26. D. Mts. Nachmittags 3 Uhr im Rathhaussaale angesetzten Versammlung einzuladen. Den, an dem benannten Tage zahlreich erschienenen Bürger wurde durch den Herrn Kammer=Rat Rötteken der Zweck des Zusammen-kommens bekannt gemacht und demnächst die in Abschrift beigefügten Statuten vorgelesen und näher berathen. Zur Wahl des Vorstandes wurde auf den Wunsch einiger Anwesenden noch nicht geschritten und hierzu eine andere Versammlung auf Sonntag de 9 Februar c. anberaumt.“
In den Akten des Kreisarchives befindet sich wenige Seiten später der am 9. Februar 1845 beschlossene Statutenentwurf für den allgemeinen Hülfsverein für das Amt Rheda. Auch dies ist neu. Bisher bezogen sich alle Aussagen zum Hülfsverein auf das Gebiet der Stadt Rheda, welche in der damaligen Zeit mit „der Gemeinde Nordrheda und Ems“ das Amt Rheda bildete. 15 Paragrafen umfasste der aufgefundene Satzungsentwurf, welcher Aussagen enthält, die inhaltlich noch in der heutigen Zeit Bestand hätten.
Am 9. Februar 1845 fand im Saal des Rhedaer Rathauses die zweite Versammlung des „Allgemeinen Hülfsverein“ statt. „Trotz des klingenden Frostes hatten sich sämtliche bisher eingezeichneten Mitglieder, einige 70 an der Zahl, eingefunden. Viel größer war aber noch die Zahl der Zuhörer, unter denen wir mit Vergnügen auch einige aus unserer Nachbarstadt Wiedenbrück bemerkten, welche sich sonst um die Vereine blitzwenig gekümmert hat.“
Nach eingehender Beratung der Statuten – wurde von den stimmberechtigten Mitglieder – folgende Personen in den Vorstand gewählt: Kammer-Rat Rötteken, Dr. O. Lüning, Kaufmann Fontain, Rektor Niemann, Bleicher H.L. Veerhoff, Direktor Regenhertz, Kammer-Sekretär Koenemann, Kaufmann O. Schwenger, Auktions-Commissair Lauten, Pastor Pade, Lehrer Graf und der Kaufmann Hoepker.
Lüning berichtete im „Westphälischen Dampboot“, daß die Statuten der Regierung zur Ge-nehmigung vorgelegt worden seien und äußerte die Hoffnung, daß die „Teilnahme für den Verein fort und fort wachsen und daß er einen heilsamen Einfluß auf den materiellen, wie auf den geistigen Zustand unserer Stadt äußern werde“.
Durch eine Regierungsverfügung, welche am 18. März 1845 in Rheda eintraf, kündigte sich das Ende des Arbeiterhilfsvereins für das Amt Rheda an. Das "Westphälische Dampfboot" informierte hierüber: "heute ist hier eine Regierungs-Verfügung eingegangen, nach welcher die nach dem Berichte des Kreis-Landrathes, Herrn von Trzebiatowski, hier stattfindenden öffentlichen Versammlungen des Localvereins, zu welchen Jedermann Zutritt hatte, bis zur Genehmigung der Statuten auszusetzen sind. Die Verfügung bezieht sich hierbei auf ein Gesetz von 1832, öffentliche Volksversammlungen und dabei etwa gehaltene politische Reden betreffend. Es ist Jedermann erinnerlich, daß damals viele solche zahlreich besuchte Volksfeste in Süddeutschland gehalten wurden, namentlich bei Hambach, und es ist klar, daß sich jenes Gesetz auf diese bezieht; nicht so klar ist es aber, wie sich dasselbe Gesetz auf die Versammlungen unseres Lokalvereins beziehen läßt. Die Idee der Vereine und Ihre Stiftung sind durch die Kabinetsordre des Königs sanktioniert. Die Regierung wird ihnen also an sich nicht entgegen wirken können und wollen; sie kann nur in dem Statutenentwurf der einzelnen Vereine Einzelnes abändern, wenn sie das für nöthig hält, wogegen dem Verein dann natürlich der Rekurs an die höhere Behörde frei steht. So kann die Regierung allerdings die öffentlichen Versammlungen der Vereine einstellen lassen, bis die Genehmigung der Statuten, welche sie festsetzt, da ist; und die Verfügung legt auch den Accent auf das Wort öffentlich. Sobald aber der Verein diese Öffentlichkeit vorläufig aussetzt, so kann und wird die Regierung die Vereins-Mitglieder nicht hindern, sich nach wie vor zu versammeln und die Interessen und die Förderung des Vereins zu berathen. Es sind so viele Vorfragen zu erörtern, daß diese Versammlungen höchst nützlich sind, selbst wenn der Verein als solcher bis zur dieselben schwerlich gesetzlich etwas einwenden lassen, da die Vereine an sich die Königliche Genehmigung gehalten haben. Hoffentlich wird unser Vorstand nach diesen Ansichten verfahren und zugleich die Öffentlichkeit der Versammlungen, welche sich hier sehr nützlich und anregend erwiesen hat, kräftig bei der Regierung bevorworten und gegen alle Verdächtigungen, denen sie etwa ausgesetzt gewesen ist, vertheidigen."
In dieser Zeit traf aus Berlin eine für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Rheda sehr erfreuliche Mitteilung ein. Die Köln-Mindener Eisenbahn sollte gebaut werden und Rheda eine Station erhalten. Der Arbeiterhilfsvereins erörterte am 30. März 1845 alle mit dem Bau der Eisenbahn zusammenhängenden Fragen und wie man sich bei den Verhandlungen über Arbeitslohn und Arbeitsfähigkeit zu verhalten habe. Zwei Meinungen prallten in dieser Versammlung aufeinander. Die einen forderten einen Arbeitslohn je nach Fähigkeit und Leistung, die anderen plädierten für einen gleichen Lohn für alle. Zu einer Entscheidung kam es an diesem Abend nicht. Lüning nahm die geführte Diskussion zum Anlass, im Westphälischen Dampfboot ausführlich Stellung zu beziehen. Eindeutig trat Dr. Otto Lüning für den Grundsatz gleicher Lohn für Alle ein.
Weitere Berichte folgen nicht. Im „Westphälischen Dampfboot" kurz mitgeteilt, daß der Rhedaer Arbeiterhilfsverein nicht mehr zu öffentlichen Versammlungen zusammentritt, die inoffizielle Arbeit und die Kontakte jedoch aufrecht erhalten werden. Auch in der Nachbargemeinde Gütersloh bestand ein "Hülfsverein", der ebenso wie der für das Amt Rheda gebildete aufgelöst wurde.