Kapitel I – Dr. Lüning und der Rhedaer Kreis

Bis in das Jahr 1843 also um 170 Jahre, lassen sich die „Wurzeln/Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung“ hier zurückverfolgen. Nicht Tageszeitungen, sondern die vergilbten Akten in den staatlichen Archiven belegen dies. Auch in Ostwestfalen-Lippe, im Altkreis Wiedenbrück befand sich keine Insel der Glückseligkeit. Im Gegenteil – nur die „Bürgerlichen“ genossen um 1840 ausreichenden Lebensstandart. Der vierte Stand (Lohnabhängige, Tagelöhner) verarmte und litt, wie in allen deutschen Staaten, auch hier unter Elend und Hunger. Die einsetzende Industriealisierung verbesserte die Not der Menschen nicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in Bielefeld, aber auch in Rheda und in Wiedenbrück um 1845 Bürgerliche zusammenfanden, um Möglichkeiten zu diskutieren, wie die Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern sei.

Eine der herausragensten Persönlichkeiten war Dr. med. Otto Lüning, welcher am 6. März 1818 in Gütersloh als Sohn eines evangelischen Pastors geboren wurde. Nach Ablegung der Reifeprüfung am Bielefelder Gymnasium(1834) studierte er in Greifswald Theologie und später Medizin. Ab Mai 1836 setzte er sein Studium in Breslau fort. 1839 schloss Lüning sein Studium ab und ließ sich 1840 als Arzt in Rheda nieder. Seine Praxis übte er an der heutigen Berliner Strasse, neben dem Hotel am Doktorplatz, im Haus Nr. 21, ehemals Haase, aus. Lüning war die zentrale Persönlichkeit der frühsozialistischen Bewegung in OWL. Unter dem heutigen Namen „Rhedaer Kreises“ ist eine Verbindung der frühsozialistischen Bewegung in OWL zu verstehen. Man traf sich aber auch in Gütersloh in einem „Schachclub“, hinter dem sich ein der Obrigkeit gegenüber geheimer Diskussionskreis verbarg. (1)
Otto Lüning war ebenso wie sein Schwager Josef Weydemeyer Mitglied im Bund der Kommunisten. Beide standen somit im engen Kontakt mit Friedrich Engels, Karl Marx, Karl Grün, Moses Heß, u. v. m. Wegen der Veröffentlichung seiner zeitkritischen Gedichte 1844 im Verlag der Brodtmannschen Buchhandlung in Schaffhausen, beantragte der westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke eine Kriminaluntersuchung gegen ihn. Der Prozess zog sich über mehrere Jahre und Instanzen hin und endete mit einem Freispruch.
Zum Jahreswechsel 1844/1845 beteiligte sich Lüning mit an Bestrebungen, einen Verein „zum Wohl der arbeitenden Klassen“ in Bielefelder zu gründen. Den „Aufruf an unsere Mitbürger unterzeichneten 3 Wiedenbrücker und 3 Rhedaer Bürger. Der ersten Versammlung in Bielefeld am 12.Januar 1845 folgten etwa 3.000 Menschen, vorwiegend Bauern und Handwerker. 14 Tage später, am 26. Januar 1845 fand eine erste Veranstaltung zur Gründung eines „Localvereins“ im „Rathaussaale“ in Rheda statt, an welcher sich über 100 Personen aus allen Ständen beteiligten. Schon am 9. Februar 1845 folgte eine weitere Veranstaltung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon über 70 Mitglieder dem Verein angeschlossen. Weitere Aktivitäten wurden von der preußischen Regierung unterbunden. In Wiedenbrück fanden „Volksversammlungen“ statt, zur Bildung eines Localvereines kam es aber nicht. Doch standen sich in Wiedenbrück zwei politische Lager gegenüber, die „Demokraten“ und die „Reaktionäre“.
Dr. Otto Lüning, Justizrat Friederich Groneweg (geb.: 5. Juli 1805 in Oerlinghausen; gest.: 20. März 1886 in Gütersloh, war ein westfälischer Politiker, Rechtsanwalt und Notar sowie Mitglied der liberalen Fortschrittspartei) und Franz von Löher, Referendar in Paderborn (Franz Löher, geb.: 15. Oktober 1818 in Paderborn, gest.: 1. März 1892 in München, demokratischer Politiker während der Revolution von 1848/49, Jurist und Historiker) traten u.a. in Wiedenbrück als Redner auf. Von 1845 bis 1848 war Lüning Herausgeber der Monatsschrift „Das westfälische Dampfboot“, vorher „Weser-Dampfboot“. In dieser Zeitschrift wurden die sozialen und politischen Missstände – trotz ständiger Schwierigkeiten mit der Zensur – scharf angegriffen. Auch Marx und Engels waren mit Beiträgen vertreten. Von 1848 bis 1850 war Lüning gemeinsam mit seinem Schwager Joseph Weydemeyer verantwortlicher Redakteur der in Darmstadt und später in Frankfurt/M. erscheinenden, der äußersten Linken nahestehenden Neuen Deutschen Zeitung. 1850 erfolgte ein Verbot der Zeitung. Lüning wurde ausgewiesen wegen „Preßvergehens“ und emigrierte in die Schweiz, wo sein Bruder lebte. Vom Mai 1844 bis zum Frühjahr 1847 besuchten Rheda: Dr. Karl Grün, Friedrich Engels (3 mal), Hoffmann v. Fallersleben und Edgar von Westphalen, aber auch Lüning war Reisender in Sachen Politik. Ein Treffpunkt der heimischen Frühsozialisten war u.a. auch das Tengsche Schloss Holte, wo weitere Treffen bzw. Tagungen stattfanden.

Caroline Gierke, wohnte am am Steinweg Nr. 9 in Rheda, hatte gute Kontakte zu Dr. Lüning und interessierte sich nicht nur für die für die politische Situation in Preußen. Sie war Leserin der „Rheinischen Zeitung“, welche 1843 durch die Behörden verboten wurde. Nachfolgerin war in den Jahren 1848 und 1849 die „Neue Rheinische Zeitung“. „…….Sie nach dem heutigen Hinscheiden der Rheinischen erwählt haben möchten, nun ist aber ja in der Westdeutschen Zeitung der Stellvertreter erschienen“(2). Insbesondere unterstützte Caroline Gierke als Geld-geberin, bekannte frühsozialistische Persönlichkeiten; wie weit sie sich vor Ort (in Rheda) politisch engagierte ist unbekannt. Über ihre Freundin Luise Beckhaus geb.: 10.06.1804 in Wetter; verstorben 29.05.1882, „langjährige Freundin unserer Familie“ (A. Lüning) erhielt sie zumindest ab 1849 brieflich Schilderungen über die neuesten Entwicklungen in Brüssel und Paris; Themen, die mündlich in Rheda dann ausführlicher beleuchtet wurden. Ab 1856 betreute Luise Beckhaus die Kinder von Dr. Otto Lüning. Neben Dr. Otto Lüning erhielt auch Ernst Dronke Gelder von Caroline Gierke. Ein Teil des Briefwechsels ist erhalten. Ernst Dronke studierte Jura studiert und war Journalist in Berlin, von wo er 1845 wegen seiner kommunistischen Meinungen ausgewiesen wurde. 1846 erschien mit „Berlin“ sein Werk (2 Bände), welches u.a. eine soziale Bestandsaufnahme der Großstadt im der Zeit der frühen Industrialisierung enthält. Für die in diesem Werk artikulierte „Erweckung von Mißvergnügen und Unzufriedenheit gegen die Regierung“ (Majestätsbeleidigung, Beleidigung des Berliner Polizeipräsidenten und der geäußerten Kritik an den Landesgesetzen) wurde Dronke zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Aus der Festung Wesel floh er nach Brüssel. Dort machte er Bekanntschaft mit Friedrich Engels, später mit Karl Marx. Im April 1848 begleitete er ihn zusammen mit Friedrich Engels von Paris nach Köln und wurde dort Redaktionsmitglied der „Neuen Rheinischen Zeitung“. Er war Mitglied im Bund der Kommunisten. 1849 emigrierte er in die Schweiz und später nach England, wo er sich ab 1852 aus der Politik zurückzog.