Auch ohne Lüning und Weydemeyer ging die politische Arbeit in OWL und in Rheda-Wiedenbrück unter sich immer mehr verschlechternden Rahmenbedingungen weiter. Am 10. und 11. September 1848 fand in Bielefeld der erste Kongress der demokratischen Vereine von Westfalen statt. Über die „Verhandlungen des ersten Congresses der demokratischen Vereine von Westphalen“ berichtete die Bielefelder Wochenschrift „Der Volksfreund“ – redigiert von Rudolf Rempel – ausführlich.
„Deputierte waren aus Paderborn, Minden, Bielefeld, Hamm, Münster, Wiedenbrück, Brockhagen, Heepen, Salzuflen, Lemgo, Herford anwesend. Neun Vereine waren mit einem Mandate vertreten.“
An diesem Kongress nahmen aus Wiedenbrück Hornay und Obbecke teil. Hornay selber ist als Diskussionsteilnehmer mehrfach erwähnt, konnte jedoch nicht für seinen Verein erklären, ob sich dieser der Organisation der westfälischen Vereine anschließen wolle. In der Beilage Nr. 13 des „Volksfreundes“ vom 16. September 1848erschien folgender
„Aufruf an die Westfalen“:
„Die Revolution, welche Könige stürzte und Völker zu neuem Dasein rief, hat auch an unsern Geistern ihre Gewalt geübt. Auch in unsern Gauen rufen die unterdrückten Rechte des Menschen zur Bekämpfung der Tyrannei gesellschaftlicher und politischer Gegensätze. Diesem Kampfe auszuweichen, wäre Verrath an den Interessen der Menschheit, ihn einzeln beginnen, wäre törrichtes Bemühen. – Nur der Partei, der kräftigen, einigen Verbindung kann der Sieg werden. Wohlan denn Westfalen! erhebt Euch von Eurer Bärenhaut der Politik, zeigt Euch Eurer Freiheit strebenden Brüder würdig, verbindet Euch zu volksthümlichen Vereinen!
Jede Stadt, jedes Dorf bilde ein Glied in der Reihe der Kämpfer für die in den Märztagen angebahnten Freiheiten! Schwer wird gerade in unsern Gauen das Erheben für unsere unveräußerlichen Rechte, aber im frischen Wagen liegt das halbe Gewinnen. Westfalen‘ noch liegt die Zukunft in Eurer Hand. Ergreift die Gelegenheit, bevor sie Euch auf immer entwunden ist.
Herrschaft des Volkes, Aufhebung der Stände und Gegensätze sei das Losungswort unsers großartigen Strebens
Bielefeld, den 11. September 1848
Der Congreß demokratischer Vereine Westfalen.“
Mitunterzeichner dieses Aufrufes waren Obbecke und Hornay aus Wiedenbrück.
Unter Einbeziehung aller Behörden zog die preußische Regierung in Berlin ein engmaschiges Netz zur Überwachung aller „gefährlichen Personen“. Die Gefängnisse füllten sich mit den demokratischen Kräften, welche sich dem Zugriff der Behörden nicht mehr entziehen konnten. Einige der führenden Vertreter der Demokratischen Bewegung setzten sich aber in das Ausland ab und führten dort ihre politische Arbeit weiter. Alle bekannten Organisationen der Arbeiterbewegung wurden verboten, jedoch konnte der Staatsapparat die Idee von der Assoziation der Arbeiter-klasse nicht zerstören. In vielen Orten – besonders im Gebiet des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen – bildeten sich Turnvereine und Unterstützungskassen, in denen sich die politische Diskussion fortsetzte. Obwohl Dr. Otto Lüning die Stadt Rheda verlassen hatte, ließen sich die Arbeiter in Rheda und in Wiedenbrück nicht entmutigen. Im Jahr 1848 bestanden in beiden Orten politische Vereine, die der politischen Überzeugung Lünings zumindest nahe-standen. Ob Lüning selber noch Gründungsmitglied war und inwieweit er sich an den Versammlungen beteiligte, konnte bis heute nicht nachgewiesen werden. Über die im Kreise Wiedenbrück bestehenden politischen Ver-einigungen verlangte am 20. Oktober 1848 die Königliche Regierung, Abt. des Innern, einen Bericht des Landrates, welcher daraufhin Stellungnahmen der Städte und Gemeinden des Kreises anforderte. Amtmann v. Kettler be-richtete dem Landrat am 6. November 1848:
„Es finden sich in Rheda folgende politische Vereine:
1. der Volks-Verein, dessen Statuten ich in Abschrift beilege, derselbe zählt schon 100 Mitglieder, die größtentheils den kleineren Handwerkern und dem Arbeiterstande angehören. Präsident des Vereins ist gegenwärtig der Justiz-Commissar Lynker. Zweck des Vereins ist: politische Bildung des Volkes und Erkennung seiner Interessen. Dies wird durch Vorträge über die politischen Tagesereignisse zu erlangen gestrebt. Der Verein versammelt sich wöchentlich einmal und es erscheinen etwa 40-70 Mitglieder. In letzterer Zeit scheint das Interesse für diesen Verein eher ab- als zugenommen zu haben.“
2. Eine Abteilung des constitutionellen Kreis-Vereins, welcher in Rheda aus 25-30 Mitgliedern besteht und hierselbst keine besondere Thätigkeit zeigt. Präsident des Kreis-Vereins ist der Justiz-Rath Groneweg zu Gütersloh, der hiesigen Abteilung der Kreis-Physicus Dr. Kisker.“
3. Verein zur Herausgabe des Volksblattes für den Kreis Wiedenbrück. Derselbe zählt hier auch mehrere Mitglieder.“ – „ Der Verein übt hier selbst fast keinen Einfluß“.
In Wiedenbrück bestanden zwei politische Vereine.
Der „Konstitutionelle Verein“ stand unter der Führung des Wiedenbrücker Bürgermeisters Helweg, welcher über den zweiten, dem „sogenannten Bürger-Klubb“, dem Landrat am 31. Oktober 1848 berichtete:
„Der sub. 1 genannte Klubb ist …demokratischer Natur, was wohl daraus hervorgeht, daß der Präsident desselben Gutsbesitzer Hornay zu Bokel mit dem sogenannten Demokraten Verein in Bielefeld, wo ein reppubikanisch gesinnter … Rempel an der Spitze steht, in Verbindung getreten ist . . . Der sogenannte Bürger-Klubb zählt etwa 80 Mitglieder.“
Aus einer in den Akten des Kreises vorhandenen Notiz des Wiedenbrücker Bürgermeisters vom 31. Oktober 1848 geht hervor, dass „in einer der letzten Versammlungen des sogenannten Bürger-Klubbs jeder Anschluß an republikanische Vereine abgelehnt“ worden ist; Bürgermeister Helweg jedoch davon ausgeht, dass Hornay, Krane und Oebbecke noch immer mit Rempel in Verbindung stehen. Obbecke“ soll jetzt auch sogar zum großen Demokraten Kongresse in Berlin sein“, heißt es weiter in dieser Notiz. Über das Schicksal dieser frühen politischen Vereinigungen geben die Akten des Kreises keine Auskunft.
Die Preußische Nationalversammlung ging nach der Märzrevolution von 1848 aus den ersten allgemeinen Wahlen in Preußen hervor. Ihre Aufgabe war die Ausarbeitung einer Verfassung für das Königreich Preußen. Am 9. November 1848 verfügte die Regierung die Ausweisung der Preußischen Nationalversammlung nach Brandenburg an der Havel.Eine große Mehrheit der Abgeordneten – außer den Rechten – beschloß daraufhin, weiter in Berlin zu tagen und erklärte das Vorgehen von Brandenburgs für ungesetzlich. Es fing in der Berliner Arbeiterschaft erneut an zu gären; jedoch war man auf eine bewaffnete Auseinandersetzung nicht genügend vorbereitet, auch die äußerste Linke lehnte überwiegend einen bewaffneten Widerstand ab. Militär besetzte das Zentrum von Berlin und umstellte das Tagungsgebäude. In allen Teilen Preußens entwickelten sich spontane Volksbewegungen zum Schutz der konstituierenden Versammlung. Auch in Rheda und in Wiedenbrück wurde über die Ereignisse diskutiert. Über diese Diskussionen geben die Akten der heimischen Archive keine Auskunft; jedoch berichtet die „Neue Rheinische Zeitung“ in ihrer 149. Ausgabe von 1848:
„Rheda. Die beiden Schwesterstädte Rheda und Wiedenbrück haben ebenfalls, jede für sich, der Vereinbarungsversammlung in Berlin eine mit einer Menge von Unterschriften versehene Adresse übersandt, worin sie dem würdevollen und festen Benehmen unserer Vertreter die vollste Anerkennung zollen. Die Zeit der Bevor-mundung hat auch hier aufgehört, das Volk erkennt von Tage zu Tage mehr seinen Standpunkt und betheiligt sich mit Freuden und Eifer an den großen Ereignissen und Errungenschaften unserer glorreichen Revolution.“
Am 18. November 1848 riefen der Volksverein Paderborn und der Bielefelder Demokratische Verein zu einem Kongreß in Münster „zur Wahrung der Rechte des preußischen Volkes“ auf. Außerdem sollte die künftige Organisation des Central-Vereins beraten werden. Neben Rudolf Rempel und Justizrath Groneweg, welcher zum Präsidenten des Kongresses gewählt wurde, nahmen aus Wiedenbrück der Apotheker Böttcher und aus Rheda der Kaufmann Höpker an diesem Kongreß teil. Wegen der Teilnahme an diesem Kongreß wurde Justizrath Groneweg wegen eines „Unternehmen der Umwälzung der Staatsverfassung“ verhaftet; Rudolf Rempel konnte flüchten. Ausführlich informierte „Der Volksfreund“ seine Leser über die Geschehnisse in dieser Zeit. Das Original dieser „Wochenschrift für Westfalen“ befindet sich im Stadtarchiv zu Bielefeld.
Durch das neue preußische Vereinsgesetz vom März 1850 wurde allen politischen Vereinen untersagt, überregionale Verbindungen anzuknüpfen. Der Überwachungsstaat“ funktionierte wieder. Die politische Diskussion fand getarnt in Lesezirkeln und Turnvereinen statt. Aktivitäten im öffentlichen Rahmen zogen Verfolgungen und Freiheitsstrafen nach sich. Man lebte wieder angepaßt. Einem Bericht des Wiedenbrücker Bürgermeisters Helweg vom 30. Juni 1850 zufolge, beantragte der Buchbindergehilfe Kühne schon Ende Januar 1850 die polizeiliche Erlaubnis für einen „zu bildenden Turn-Verein.“ Diese Erlaubnis verweigerte Helweg jedoch, „weil nach § 1 der Statuten der Verein auch politische Zwecke verfolgen wollte.“ Ob sich ein Turnverein dennoch gebildet hatte, konnte der Wiedenbrücker Bürgermeister nicht in Erfahrung bringen.
Die Zigarrenarbeiter und Seiler führten – zwar vorsichtig – die politische Arbeit vor Ort weiter. Über die Bemühungen der staatlichen Organe, Beweise über die politischen Betätigungen beider Berufsgruppen zu erhalten, informieren uns heute noch die Akten der staatlichen Archive. So nahmen im Jahre 1849 Vertreter der Zigarrenarbeiter aus Rheda und aus Wiedenbrück an einem Kongreß in Leipzig teil. Auch am nächsten Kongreß, vom 19.-25. August 1850 in Hamburg, waren beide Orte durch Delegierte vertreten.
Landrat Bessel teilte der Königlichen Regierung in Minden am 13. Juli 1850 mit, daß „Arbeiter Vereine“ im hiesigen Kreise nicht bestehen, sich aber „in Rheda eine Zigarren Arbeiter Association gebildet“ habe. Der Magistrat der Stadt Wiedenbrück habe „mit Bestimmtheit geleugnet“, daß sich Zigarren Arbeiter „jenem Verein angeschlossen haben“. Auf Grund einer entsprechenden Anfrage unterstrich von Kettler am 20. September 1850 seine Aussagen, indem er schrieb, daß er seine Annahme, „daß unter den Zigarrenarbeitern zu Wiedenbrück und hier sich ein Verein gebildet „hat“ nach den mir damals gewordenen Andeutungen als richtig halten muß.“
Der Mindener Regierungspräsident teilte im September 1851 dem Landrat mit, daß die „Cigarren-Arbeiter-Assoziation Deutschlands“ verboten sei und der Rhedaer und Wiedenbrücker Vereinigung zu untersagen wäre, die Verbindungen zu den anderen Vereinigungen dieser Organisation aufrechtzuerhalten. Es ist jedoch davon auszugehen, daß sich die Zigarrenarbeiter im politischen wie auch im sozialen Bereich weiterbetätigen. Eine Bestätigung dieser Aussage kann dem Schriftverkehr zwischen dem Regierungspräsidium in Minden und dem Wiedenbrücker Landratsamt entnommen werden. Aus einem im Staatsarchiv in Detmold vorliegenden Bericht aus Rheda vom 2. Dezember 1853 geht hervor, daß der „Cigarrenmacher Carl Ide“ Unterstützungsgelder abliefern musste.Landrat Bessel schildert am 12. Dezember 1853 ausführlicher die neuen Aktivitäten der Zigarrenarbeiter.
„Nach dem anliegenden Bericht des Amtmanns v. Berswordt vom 2. und 8. d. Mts. sind verschiedene Zigarrenmacher zu Rheda der von Arronge errichteten Witwen- und Invalidenkasse als Mitglieder beigetreten; außerdem hat sich dort ein Verein zur Unterstützung reisender Zigarrenmacher unter dem Vorsitze des Arbeiters Gottschalk gebildet. Gegen beide Associationen ist durch Beschlagnahme der vorgefundenen Kassenbestände ad. 9 Rthlr. 1 Sgr. 2 Pf. sowie der beifolgenden 16 Stück Bücher vorläufig eingeschritten. “ Im Februar 1854 erhielt Bessel vom Regierungspräsidenten die Order, „die Auflösung dieser Verbindung vorzunehmen und die Bestrafung“ herbeizuführen.
„Es kann eine weitere Nachsicht gegen einen Verein, welcher absichtlich die Gesetze des Staates zu umgehen sucht, nicht länger geübt werden“, so der Regierungspräsident. Mit der Anklageerhebung wurde der Rhedaer Amtmann beauftragt. Dieser teilte dem Landratsamt am 26. April 1854 mit, daß
„die von mir gegen den Cigarrenmacher Unterstützungsverein erhobene Anklage“ von dem Rhedaer Polizeidirektor zurückgewiesen worden sei, da das Strafgesetzbuch nur denjenigen mit Strafe bedroht, „welcher ohne Genehmigung der Staatsbehörde eine der näher beschriebenen Cassen oder Anstalten errichtet,“ nicht aber deren Mitglieder. Weitere Ermittlungen unter den Zigarrenarbeitern in Rheda blieben erfolglos, doch der Rhedaer Amtmann von Berswordt berichtete, daß sich der alte Verbindungsgedanke bei den Zigarrenarbeitern und Wiedenbrücker Seilern „wiederum als fortbestehend bemerklich“ mache. Über den weiteren Zeitraum liegen nur wenige Informatioen vor.
Im Jahre 1868 gibt es neues über die Zigarrenarbeiter aus Rheda zu melden. „Der Königlichen Regierung berichte ich gehorsamst, daß nur in Rheda ungefähr 20 Cigarettenarbeiter dem in Berlin domicilierten allgemeinen deutschen Zigarren-Arbeiter-Verein (Vorsitzender F. W. Fritsche) beigetreten sind“, teilte Landrat Bessel am 20. Februar 1868 der Regierung in Minden mit. Auch die Bielefelder Zeitung „Der Wächter“ berichtete am 21. September 1868 erstmalig über die Rhedaer Zigarrenarbeiter.
„Rheda, den 18. September – (Privat Mitteilung)
Am 16. d. M. wurde unter Vorsitz des Herrn H. Gottschalk eine Cigarrenarbeiter-Versammlung abgehalten zur Beschickung des in Berlin am 27. d. M. stattfindenden Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Congresses. Als Vertreter der hiesigen Cigarrenarbeiter wurde Herr A. Korn gewählt.“
(Quellenangaben folgen am Ende von Kapitel III)