Die Zigarrenarbeiter waren in Rheda (Westf.) die Berufsgruppe, die vorwiegend die politische Diskussion am Ort forderte und die sich auch selber politisch weiterbildete. Die Zigarrenarbeiter schlossen sich auch als erste der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an, die im August 1869 unter der Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründet wurde.
Die SDAP verabschiedete auf ihrem Eisenacher Kongreß vom 7.-8. August 1869 ein Programm, welches den politischen Grundsatzerklärungen von Karl Marx und Friedrich Engels entsprach. Das Organ der SDAP „Der Volksstaat“ berichtete am 22. Juni 1870 aus Rheda (Westf.):
„Rheda, 12. Juni. Heute hielt Herr Heitbrinck aus Bielefeld hier eine Versammlung ab. Derselbe erklärte die Prinzipien der sozialdemokratischen Partei, schilderte die Zustände der heutigen Gesellschaft und forderte sämtliche Arbeiter auf, der Partei beizutreten und mitzukämpfen zur Erringung der Menschenrechte für das Proletariat. Häufiger Beifall wurde dem Redner zu Theil und es zeichneten sich trotz der schlechten Verhältnisse 25 Mann in die Parteiliste ein; hoffentlich wird unsere Zahl in kurzer Zeit verdoppelt werden. Mit Gruß W. Bergmann“
Durch diesen Bericht wird auch die Darstellung des ehemaligen Vorsitzenden der Rhedaer Sozialdemokraten August Eickholt bestätigt, welcher aussagte, daß der SPD-Ortsverein Rheda (Westf.) nach dem deutsch-französischen Krieg von 1871 unter dem Namen Sozialdemokratischer Arbeiterverein entstanden sei. August Eickholt berichtete daß er noch einige Genossen aus den Gründerjahren gekannt habe. Vorhandene Protokollbücher und Flugblätter bzw. Plakate aus dieser Zeit sind – so August Eickholt – 1933 nach dem Verbot der SPD durch die NSDAP auf dem Rathausvorplatz in Rheda verbrannt worden. Der 12. Juni 1870 ist somit das erste Gründungsdatum des SPD-Ortsvereins Rheda (Westf.), obwohl bis heute nicht geklärt werden konnte, in welcher Organisationsform sich die „25 Mann“ zusammengeschlossen haben. Wilhelm Bergmann, welcher den Bericht für den Volksstaat zeichnete, taucht in den noch vorhandenen Unterlagen über die Arbeit der Rhedaer Sozialdemokraten bis 1888 des Öfteren auf. Der Mut derjenigen, die sich 1870 der SDAP anschlossen oder auch in den folgenden Jahren bis 1933 zur SPD stießen, muß bewundert werden, da ihre politische Arbeit ständig von Repressalien begleitet wurde.
Daß die Arbeitnehmer sich trotz der strengen Überwachung und trotz der drohenden Bestrafungen für die Durchsetzung ihrer Rechte stark machten, beweist ein Streik der Zigarrenarbeiter in Rheda im November 1871. Hierüber berichtete der Wiedenbrücker Landrat Düesberg dem Regierungspräsidenten am 9. November 1871 folgendes:
„Der Königlichen Regierung verhehle ich nicht gehorsamst anzuzeigen, daß die Cigarrenmacher in den Fabriken von E. Höpker, C. Westinghausen und den Compagnie Geschäfte von Grimm u. Doerrien zu Rheda zusammen etwa 50 am 9.d.M. die Arbeit eingestellt haben, weil die Fabrikanten sich weigern, ihnen eine Lohnerhöhung von 10 Sgr. für die Anfertigung von je 1000 Stück Cigarren zu gewähren.“ Die streikenden Zigarrenarbeiter setzten in den Verhandlungen mit den örtlichen Arbeitgeber eine Lohnerhöhung von 7 1/2 Sgr. pro 1000 gefertigter Zigarren durch.
Bei den Reichtagswahlen am 10. Januar 1874 kandidierten für die Sozialdemokratie im Wahlkreis Bielefeld/Wiedenbrück August Bebel und Wilhelm Pfannkuch. August Bebel erhielt im Wiedenbrücker Teil des Wahlkreises keine Stimme; Wilhelm Pfannkuch konnte 87 Stimmen auf sich vereinigen. Leider sind über die örtlichen Diskussionen vor dem Vereinigungskongreß der beiden großen Arbeiterparteien keine Dokumente mehr vorhanden. Erst die Bielefelder Tageszeitung „Der Wächter“ erwähnte im Dezember 1878 wieder die Rhedaer Sozialdemokraten. In der Rubrik „Aus der Provinz“ berichtete „Der Wächter“ am 28. Dezember 1878 über eine Wahlveranstaltung der liberalen Partei zu den Reichstagswahlen in Rheda und daß an dieser Veranstaltung „auch ein großer Teil der am hiesigen Ort befindlichen Sozialdemokraten“ teilgenommen habe. Auf ihren Veranstaltungen griff die liberale Partei die Sozialdemokraten immer wieder diffamierend an, ohne daß die Mitglieder der SPD eine ausreichende Möglichkeit erhielten, Unwahrheiten und Entstellungen sofort zu berichtigen. So sahen sich die Sozialdemokraten in Rheda veranlaßt, zu den Reichstagswahlen noch weitere Veranstaltungen durchzuführen, um eine bessere Unterrichtung der Bürger zu gewährleisten. Über diese Versammlungen wird aber in den Akten der Archive nicht berichtet, ein Schreiben des Königlichen Landrates an den Herrn Regierungspräsidenten vom 11. August 1878 bestätigt aber, daß schon vor den vorletzten Reichstagswahlen (10. Januar 1877) die Sozialdemokraten eigene Veranstaltungen durchführten, die „ziemlich stark, namentlich von Arbeitern besucht“ waren. Die führenden Agitatoren der sozialdemokratischen Ideen hießen Theodor Schulte, Hermann Kreutzkamp und Wilhelm Bergmann. Theodor Schulte war zu dieser Zeit Vorsitzender des Rhedaer Tabak-Arbeiter-Vereins, der gleichzeitig eine Unterorganisation des „Deutschen Arbeitervereins“ bildete. Die Mitglieder des Rhedaer Zweig-Vereins (76 an der Zahl) erhielten statutengemäß ein Exemplar der sozialdemokratischen Schrift „Der Beobachter“. Aus einer Aktennotiz geht hervor, daß sämtliche Mitglieder des Vereins bei den letzten Wahlen für den sozial-demokratischen Reichstagskandidaten Pfannkuch gestimmt haben. Aus der Akte des Königlichen Landrathsamt Wiedenbrück über die Überwachung der Versammlungen und der Vereine (1872-1888) geht hervor, daß Landrat Schmitz-Mahlberg am 7. Juni 1878 die Bürgermeister aus Rheda und Wiedenbrück zu einem geheimen Gespräch in das Landratsamt einlud. Im Mittelpunkt dieses Gespräches sollten die „zu ergreifenden Mittel“ gegen das Treiben der Sozialdemokraten stehen. Bürgermeister Fetkoeter aus Rheda und Bürgermeister Brüggemann aus Wiedenbrück wurden angewiesen, sich vor dem angeraumten Termin ausführlich über den Stand der sozialdemokratischen Bewegung in ihren Städten zu informieren. Unter anderem wollte Schmitz-Mahlberg wissen, in welchen Lokalen sich die Sozialdemokraten hauptsächlich aufhielten, welche Versammlungen durchgeführt wurden und ob die ansässigen Sozialdemokraten von „auswärtigen Agitatoren“ unterstützt würden. Über das Gespräch im Landratsamt sind keine Notizen vorhanden, doch beweisen auch diese Aktivitäten von Schmitz-Mahlberg, wie stark die Sozialdemokraten vor Ort unter Beobachtung standen.
Das erste „amtliche“ Dokument über das Bestehen des SPD-Ortsvereins Rheda befindet sich im Archiv der Stadt Rheda-Wiedenbrück. Der Oberstaatsanwalt in Paderborn hatte in einem Rundschreiben vom 31. Mai 1878 an die Staatsanwälte in Bielefeld, Minden und Paderborn diese Herren ersucht, ihm mitzuteilen, welche sozialdemokratischen Vereinigungen in den einzelnen Bezirken bestehen, welche Namen sie führen und welche Agitatoren bekanntgeworden sind.
Am 13. Juni 1878 überreichte der Landrat die Aufforderung des Oberstaatsanwalts der Ortspolizeibehörde in Rheda mit dem Auftrage, unverzüglich das erforderliche Material zurückzusenden. Dies geschah zwei Tage später. Der Bürgermeister von Rheda teilte der Königlichen Staatsanwaltschaft in Bielefeld mit:
„Der K. Staatsanwaltschaft verhehle ich nicht, ergebenst anzuzeigen, daß etwa 80 hiesige Cigarrenarbeiter zur Sozialdemokratischen Partei gehören. Dieselben bilden eine Mitgliedschaft des zu Berlin domicilierten vom Königl. Polizeipräs. daselbst als eingeschriebene Hülfskasse zugelassenen Deutschen Tabakarbeitervereins und gehören zum Teil auch der Zentral-Kranken- und Sterbekasse jenes Vereins an. Die Führer und Hauptagitatoren sind die Cigarrenmacher Theodor Schulte, Hermann Kreutzkamp, Willi Wagner und Friedrich Müller. Sonstige Vereinigungen unter besonderem Namen bestehen hier nicht.“
Der Rhedaer Bürgermeister Fetkoeter erklärte am 29. Juli 1878 dem Landrat, daß er zur besseren Überwachung der Sozialdemokraten einen engen Kontakt zu den Rhedaer Zigarrenfabrikanten halte. „Von Seiten der Fabrikanten“, so schrieb der Bürgermeister, ist den Zigarrenarbeitern „bei Strafe sofortiger Entlassung das Mitbringen sozialistischer Schriften in die Arbeitsräume sowie jede sozial-demokratische Agitation untersagt“. In Wiedenbrück erklärte der Fabrikant Otto Radloff aus Elberfeld (Besitzer der Radlof’schen Seilerei in Wiedenbrück) sogar, daß er alles aufbieten würde, um die Sozialdemokratie auszurotten.
Auch die Verwaltungen mehrerer Eisenbahngesellschaften wollten die Sozialdemokraten nicht in ihren Betrieben beschäftigen. Nur Arbeiter, die eine polizeiliche Bescheinigung vorlegten, wonach sie der Sozialdemokratie nicht angehörten, hatten eine Chance, einen der begehrten Arbeitsplätze bei der Eisenbahn zu erhalten.
„Die Verwaltungen einer großen Anzahl von Eisenbahnen haben die Abrede getroffen, die Annahme von Eisenbahnarbeitern, vor allem von Werkstattarbeitern, von der Beibringung eines politischen Attestes Seitens des Arbeiters, durch welches seine Nichtzugehörigkeit zu der sozialdemokratischen Partei bescheinigt wird, abhängig zu machen. Mit Bezug hierauf veranlasse ich Euer Wohlgeboren, den Eisenbahnverwaltungen auf amtliche Anfragen evtl. über einzelne in Betracht kommende Persönlichkeiten auch hinsichtlich deren politischer Haltung jede gewünschte Auskunft zu ertheilen; dagegen empfiehlt es sich, Atteste der in Frage stehenden Art an Privatpersonen nicht abzugeben, weil mit solchen, in den Händen Privater befindlichen Attesten leicht grober Mißbrauch betrieben werden kann.“
Diese genauen Anweisungen erhielt der Rhedaer Bürgermeister durch ein Geheimschreiben des Wiedenbrücker Landrates am 18. September 1878.