Auf dem Einigungskongreß im Mai 1875 in Gotha schlossen sich die Arbeitervereine zu einer einzigen großen Partei der „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ zusammen. Reichskanzler Bismarck misstraute der neuen Partei und lies sie vom Staatsapparat überwachen. Zwei Attentate auf den greisen Kaiser Wilhelm gaben ihm dann die Gelegenheit die neue Arbeiterpartei unter Ausnahmerecht zu stellen.
Am 18. Oktober 1878 brachte Bismarck im Reichstag das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ ein. Vergeblich protestierten Bebel und Liebknecht gegen das Ausnahmegesetz. Die erste große Verfolgungszeit der SPD begann. Alle sozialdemokratischen Vereinigungen wurden verboten. 600 Zeitungen und Zeitschriften, 1170 Bücher und Druckschriften beschlagnahmten die Behörden. 26 Gewerkschaften wurden aufgelöst. 1500 Arbeiterführer wanderten ins Gefängnis, 900 mussten das Deutsche Reich verlassen. Über eine Reihe von Großstädten wurde der „Belagerungszustand“ verhängt. Doch die Sozialisten gaben nicht nach. Ihre Hauptzeitung, „Der Sozialdemokrat“, wurde jetzt in Zürich gedruckt und von da aus über die Grenze geschmuggelt und verteilt. Als man die Schriftleitung auf Bismarcks Betreiben aus der Schweiz auswies, siedelte sie nach London über. Zusammenkünfte der verbotenen Partei tarnten sich als Gesangsvereine, Kegelklubs, Turnvereine und harmlose Landpartien. Der Wiedenbrücker Landrat Schmitz-Mahlberg erhielt von seinen vorgesetzten Behörden in Minden und Münster monatliche Warnungen über die im Untergrund agierenden Sozialdemokraten. Zwar konnte die Sozialdemokratische Partei bei allen Wahlen im Landkreis Wiedenbrück keine großen Stimmenanteile erringen, jedoch wussten die Beamten, dass in den „unteren Bevölkerungsschichten“ – besonders unter den Rhedaer Zigarrenarbeitern – erhebliche Sympathien für sozialistisches Gedankengut bestanden. Außerdem hatte man in Münster und in Minden die Arbeit von Dr. Otto Lüning und die „sozialistischen Zusammenkünfte“ in den vierziger Jahren nicht vergessen. Das Sozialistengesetz traf auch die Sozialdemokraten und Zigarrenarbeiter in Rheda und Wiedenbrück. Am 23. Oktober 1878 wurde der Tabackarbeiter-Verein verboten; einen Tag später der in Rheda bestehende Zweigverein des Deutschen Arbeitervereins in Minden. (1)
Die Königliche Regierung in Minden – Abteilung des Innern – schärfte Ausführungsbestimmungen zum Sozialistengesetz (vom 7. November 1878) alle Landräte und Ortspolizeibehörden ein, „die Bestrebungen der Sozialdemokratie“ auf das „Sorgfältigste“ zu überwachen. In den Ausführungsbestimmungen hieß es u.a.:
„Soll der Zweck des Gesetzes erreicht werden, so müssen die Mittel, welche dasselbe zur Abwehr der aus der sozialdemokratischen Agitation für die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung erwachsenden Gefahr gewährt, mit Ernst und Entschiedenheit, nicht minder aber mit Umsicht und vollster Loyalität gebraucht werden. Demnach ist sorgfältig darauf zu achten, dass das Gesetz nicht gegen andere, als sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen angewendet werden,“. Die Landräte waren aufgefordert, vierteljährlich einen Bericht über: 1. Die Ausführung des Gesetzes
2. die Wirkung des Gesetzes
3. den Stand der sozialdemokratischen Bewegung und
4. die Mittel und Wege, welche die Führer der sozialdemokratischen Bewegung zur Abwendung oder Umgehung des Gesetzes etwa einschlagen, zu melden.
Die Mindener Regierung informierte das Wiedenbrücker Landratsamt über alle Wege, über die sozialdemokratische Publikationen illegal nach Deutschland eingeschleust wurden. Durch die Überprüfung der Postsendungen aus dem Ausland waren die Behörden über die Vertriebsorganisation für den „Sozialdemokrat“ unterrichtet.
Am 22. Oktober 1880 unterrichtete der Regierungspräsident dem Landratsamt in Wiedenbrück:
„Von den beiden Hauptsitzen der socialistischen Propaganda im Auslande werden neuerdings socialistische und revolutionäre Druckschriften aller Art, insbesondere, Freiheit‘ und Socialdemokrat‘ sowie Exemplare der sämmtlichen im Reichsanzeiger als verboten publizierten Flugblätter, in die verschiedensten Waaren und Waarenverpackungen versteckt, über die Deutsche Grenze eingeführt. Das Zollamt in Wien fand Exemplare der Freiheit‘ in Bambusrohren. Der Druck war in London erfolgt, die Abgangsstelle war Rotterdam. Andere Exemplare kamen als, Zuckerhüte‘ verzollt an, nur die obere und untere Lage der Sendung waren echte Zuckerhüte. Corned-beef-Büchsen und Büchsen für condensierte Milch waren an anderer Stelle mit Druckschriften angefüllt entsprechend verzollt in Deutschland eingeführt.
Außerdem werden Druckplatten zur Herstellung von Schriften in Seifentafeln eingegossen, mit Wachsüberzügen versehen, oder in Polsterkissen verborgen eingeschmuggelt.“ (3) Über verdächtige Sozialdemokraten welche sich in Deutschland auf Reisen befanden, erhielt das Wiedenbrücker Landratsamt jeweils Nachricht mit ausführlichen Personenbeschreibungen. (4)
In Rheda entstammten die meisten Anhänger der Sozialdemokratie dem Stande der Zigarrenmacher. Besonders bekannt bei den Behörden war Hermann Kreutzkamp, der in Rheda trotz Verbot weiter agierte und über verschiedene Wege Druckschriften der Partei erhielt und auch weiter verteilte. In verschiedenen Schriftstücken des königlichen Polizeipräsidiums zu Berlin, der Polizeidirektion Bremen, des königlichen Landrates Wiedenbrück und des Bürgermeisters von Rheda tauche immer wieder sein Name auf. So schrieb z.B. das Königl. Polizeipräsidium in Berlin am 4. März 1881:
„Auf vertraulichem Wege bin ich in den Besitz einer Reihe von gedruckten Adressen gelangt, wie sie Seitens der in Liquidation befindlichen Genossenschafts-Buchdruckerei zu Leipzig zur Versendung von Druckschriften Anwendung finden. Unter denselben befindet sich auch die Adresse H. Kreutzkamp, Cigarrenmacher zu Rheda.“ (5)
Am 8. Februar 1883 schrieb der Polizeipräsident abermals an den Landrat. Aus diesem Schreiben wurde folgender Absatz entnommen:
„. . . mitzuteilen, daß am 4. Januar ds. J. ein unbekannter Bursche angehalten worden ist, auf dem Bahnhof zu Grenzach in Baden, Bezirksamt Lörrach, welcher bei der gerichtlichen Vernehmung aussagte, Franz Boyer zu heißen, in Budapest geboren zu sein und sich seit vielen Jahren in der Schweiz, zuletzt in Windikon bei Zürich, aufgehalten zu haben, mit 3 Kisten enthaltend verbotene sozialdemokratische Bücher, Schriften und Zeitungen, von denen ein Theil bereitz in Briefcouverts verpackt war. Unter den Briefen, welche die Nr. 1 des Socialdemokrat‘ pro 1883 enthielten, befanden sich solche mit den Adressen: Hermann Kreutzkamp, Cigarrenarbeiter in Rheda.“ (6)
Dieses Schreiben leitete der Landrat schnellstens an den Rhedaer Bürgermeister weiter, welcher die Aktivitäten der „verdächtigen Personen“ genau beobachtete.
Am 16. März 1883 teilte der Bürgermeister unter anderem folgendes dem Königl. Landrat in Wiedenbrück mit:
„. . . Nach beigefügter Anzeige des Cigarrenmachers Schulte hat sich hier eine Mitgliedschaft des Reiseunterstützungs-Vereins Deutscher Tabakarbeiter zu Bremen auf Grund der anliegenden Statuten gebildet.
Wenngleich diese letzteren keinerlei Bestimmungen enthalten, aus welchen hervorgeht, daß der Verein socialdemokratische Bestrebungen verfolgt, so wird dennoch der Verdacht, daß derselbe solche Tendenzen bezweckt, dadurch erregt, daß die von Seiten der hiesigen Mitgliedschaft als Vertreter des Hauptvorstandes gewählten Cigarrenmacher, namentlich der Hermann Kreutzkamp der Verfolgung socialdemokratischer Bestrebungen verdächtig sind. Vielleicht möchte durch Rückfrage bei der Polizeidirektion Bremen nähere Auskunft über den Verein zu erlangen sein.“ (7)
Dieser Anregung folgte Landrat Dr. Osterrath, der im Jahre 1882 die Dienstgeschäfte auf dem Reckenberg übernommen hatte, unverzüglich. Schon am 20. März 1883 schrieb er der Polizeidirektion in Bremen u.a.:
„In der Stadt Rheda hat sich eine Mitgliedschaft des Reiseunterstützungsvereins für Deutsche Tabakarbeiter zu Bremen‘ gebildet und die anliegenden Statuten übergeben. Der Verein ist dadurch verdächtig geworden, daß die als Vertreter des Rhedaer Zweigvereins für den Hauptvorstand gewählten Personen meist als Socialdemokraten bekannt sind; einer derselben verbreitet offenbar seit längerer Zeit socialdemokratische Schriften, ohne daß es bis jetzt gelungen wäre, ihn auf der That zu ertappen.“
Von der Bremer Polizeidirektion wünschte Osterrath zu erfahren, ob dieser Verein lediglich für die Sammlung sozialdemokratischer Beiträge „unter anderer Firma“ gegründet worden sei. (8)
Besondere Aktivitäten entwickelten die Sozialdemokraten zu den jeweiligen Reichstagswahlen. Über den Wahlkampf im Jahre 1881 liegen mehrere Berichte vor. Der Fußgendarm Koch 1 der 6. Gendarmeriebrigade meldete am 30. Oktober dem Landrat:
„Am 22. d. Mts. hat der Cigarrenarbeiter Emil Dreisvogt an den Wirth und Bäcker Carl Wehler und Wirth Samuel Weinberg socialistische Flugblätter verabreicht und der Cigarrenarbeiter Wilhelm Kreutzkamp am 23. d. Mts. an den Wirth Heinrich Kreutzkamp solche abgegeben.“ (9)
Wie aus den Akten der Kreisverwaltung Gütersloh weiter hervorgeht, überreichte die Regierung in Minden dem Landrat am 1. November 1881 ein sozialdemokratisches Flugblatt, das als Verleger Wilhelm Kreutzkamp in Rheda und als Verfasser D. Hegemann auswies, sowie eine Beschlagnahme-Bekanntmachung, die beiden auszuhändigen sei. Die Sozialdemokraten forderten in diesem Flugblatt den allgemeinen und unentgeltlichen Unterricht für alle Volksklassen in allen Bildungsanstalten, die Ausdehnung der Haftpflicht auf sämtliche Arbeiter, die Einführung einer allgemeinen Einkommens- und Vermögenssteuer sowie Aufhebung der indirekten Steuern, keine Erhöhung der Tabaksteuer und kein Tabakmonopol, „das 100000 Arbeiter völlig brotlos machen und damit die allgemeinen Löhne weiter drücken würde“. Die letzte Aussage war besonders für Rheda interessant, da dort eine Reihe von Zigarrenfabriken ansässig waren.