Von einer besonders regen Tätigkeit der Sozialdemokraten war das Jahr 1884 gekennzeichnet. Alle Behörden hielten sich streng an die Paragraphen des Sozialistengesetzes, um die Verbreitung sozialdemokratischer Ideen unmöglich zu machen. Trotzdem wagten es die Rhedaer Sozialdemokraten weiterhin, Wahlveranstaltungen für die bevorstehenden Reichstagswahlen durchzuführen.
Aber auch in der Stadt Wiedenbrück regten sich die Sozialdemokraten. Am 27. Februar 1884 teilte das dortige Bürgermeisteramt dem Landrat mit, dass die Sozialdemokraten eine Versammlung beim Wirt Grossegesse durchfuhren wollten. Die polizeiliche Genehmigung für diese Veranstaltung war erteilt, doch sagte Grossegesse den Sozialdemokraten ab. Bürgermeister Brüggemann verlangte daraufhin die Nennung eines neuen Versammlungslokales innerhalb von 3 Stunden. Der Zigarrenmacher J. Rehage bemühte sich vergeblich, denn „jetzt wollte niemand, auch auf keiner Tenne, diese Versammlung haben.“
Mit dem „Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Minden“ vom 8. März 1884 wurde allen Behörden mitgeteilt, dass ein neues von Hermann Kreutzkamp verlegtes Flugblatt verboten sei. Wörtlich hieß es: „Auf Grund §§ 11 und 12 des Reichsgesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878 ist das in Rheda im Verlage von Hermann Kreutzkamp erschienene und bei Wörlein & Comp. in Nürnberg gedrucktes Flugblatt, betitelt:
„An die Wähler des Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück, Wähler, Arbeiter in Stadt und Land!“
unterschrieben „Sozialdemokratische Wähler des Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück“
durch unterzeichnete Landes-Polizeibehörde verboten worden.
Sozialdemokratische Flugblätter wurden auch in anderen Orten von den Behörden aufgespürt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Meldung des Amtmanns Meyer aus dem Amt Schildesche-Jöllenbeck vom 8. März 1884:
„Der in Rheda herausgekommene sozialdemokratische Wahlaufruf ist auch unter den Einwohnern des hiesigen Bezirks, und zwar sowohl vor als nach dem obrigkeitlichen Verbot, zur Nachtzeit verbreitet.“
Seitens der Sozialdemokratischen Partei sind seit Anfang dieses Jahres bedeutende Versuche gemacht, im hiesigen Kreise und insbesondere in den Städten Rheda und Wiedenbrück Fuß zu fassen“, so hieß es in einem Schreiben des Wiedenbrücker Landrates an die Regierung in Minden vom 11. März 1884. Weiter berichtete der Landrat, dass ihm am 23. Februar spät abends „aus sicherer Quelle“ mitgeteilt worden sei, dass „am folgenden Nachmittage eine Sozialisten-Versammlung in Rheda stattfinden solle“, in der der Kandidat Hegemann und der sozialistische Reichstagsabgeordnete Frohne sprechen wollten. Aufgrund des Sozialistengesetzes verfügte der Landrat das Verbot der Versammlung.
Trotzdem hat eine Versammlung stattgefunden, wie einem Zeitungsbericht zu entnehmen war. Alle Verbote hinderten die Rhedaer Sozialdemokraten nicht daran, weiterhin Versammlungen und Veranstaltungen durchzuführen. Sie verstanden es geschickt, diese zu tarnen und lange geheim zu halten. Es ist somit nur verständlich, dass die periodischen Meldungen des Landrates keine Besonderheiten beinhalteten.
Die besondere Schärfe der Beobachtungen durch die staatlichen Behörden drückt sich in folgendem Edikt aus.
Aufgrund einer Verfügung des Königlichen Regierungs-Präsidiums in Minden vom 7. Oktober 1884 wies der Landrat die Herren Bürgermeister an, „von neuem unausgesetzt die schärfste Vigilanz auf die Verbreiter sozialdemokratischer Flugblätter in der dortigen Stadt anstellen zu lassen‘ . . . Zur Wahrung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ist es dringend geboten, daß nach Möglichkeit dahin gestrebt wird, die Verbreiter derartiger revolutionären Druckschriften zu ermitteln und zur Bestrafung zu ziehen“.
Diese erneute Aufforderung aus Minden zur erhöhten Wachsamkeit führte zum Erfolg, denn nun fielen Rhedaer Sozialdemokraten „unangenehm“ in den Nachbargemeinden auf. Am 14. Oktober 1884 schrieb der Wiedenbrücker Bürgermeister Brüggemann dem Landrat, „daß es gelungen ist, den Verbreiter des (… ? … ) Flugblattes in der Person eines in Rheda wohnenden Cigarrenmachers Hermann Kreutzkamp zu ermitteln“.
Aus Gütersloh konnte Bürgermeister Mangelsdorf melden: „von einem Einwohner aus Rheda sind mir Mitteilungen über die Agitation eines dortigen jungen Sozialdemokraten in hiesiger Stadt zugegangen“.
Die strenge Überwachung und die Beschlagnahme von Flugblättern hatte jedoch noch für die beteiligten Behörden ein nicht erfreuliches Nachspiel. Über die Wahlprüfungskommission gelangte ein „Protest“ gegen die Gültigkeit der Wahl des Herrn Eduard, Freiherrn von Ungern-Sternberg zu Berlin – Vertreter des Reichstags-Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück – vom 12. November 1884 in den Reichstag. Der Reichskanzler wurde beauftragt, eine Klärung der Angelegenheit herbeizuführen. Von dem Ministerium des Innern und der Königl. Regierung in Minden erhielt der Landrat Osterrath die Aufforderung, „über die Gründe, welche zum Verbote der sozialdemokratischen Flugblätter Veranlassung gegeben haben, schleunigst eingehend zu berichten“. Was war geschehen? In dem „Protest“ wird hierüber geschrieben:
„Am 5. October wurden in diesem Wahlkreise, zur Förderung der Wahl des Tischlers Dietrich Hegemann zu Bielefeld, bestimmte Wahlflugblätter An die Wähler des Reichstags-Wahlkreises Bielefeld-Wiedenbrück‘ verbreitet, welche jedoch in Gütersloh, Rheda usw. von den Gendarmen und Polizeibeamten der betreffenden Orte schon am Tage der Verbreitung und des folgenden Tages wieder eingesammelt und den Wählern wieder aus ihren Wohnungen geholt wurden, obschon dieselben nicht verboten waren.“
Zur Vorbereitung der Reichstagswahlen fanden dann auch in Rheda Versammlungen statt, in denen auswärtige Referenten zu aktuellen Fragen sprachen. So fand am 12. Oktober 1884 in der Gaststätte Beermann „eine vorschriftsmäßig angemeldete sozialdemokratische Wählerversammlung“ statt, die Hermann Kreutzkamp eröffnete.
Die Mitglieder des Ortsvereins wählten vor dem öffentlichen Teil der Versammlung den Zigarrenmacher Theodor Schulte zum Vorsitzenden, den Zigarrenmacher Friedrich Ummelmann zum Stellvertreter und Hermann Kreutzkamp zum Schriftführer. Anschließend wurde dem Kandidaten der SPD für den Reichstag, Dietrich Hegemann, das Wort erteilt. Er kritisierte vor den ca. 70 Versammlungsteilnehmern besonders die von Bismarck erlassene Sozialgesetzgebung. „Durch einseitiges Vorgehen der Unternehmer wie Herabsetzung von Löhnen werde die Existenz des Arbeiters bedroht und derselbe geknechtet. Ein freies Wort sei ihm auch außer der Arbeitszeit nicht gestattet. Es drohe ihm das Los der Entlassung. So stehe der Arbeiter und doch sei die Arbeit die Quelle aller Kultur und der Arbeiter habe ein Recht auf politische Freiheit und oeconomische Unabhängigkeit,“ führte Hegemann nach einem Bericht des Rhedaer Bürgermeisters aus. Mit aller Schärfe griff Hegemann auch die Unternehmer an und fand mit seinen Ausführungen die volle Zustimmung seiner Zuhörer. In einem Geheimbericht an den Herrn Polizeipräsidenten zu Berlin kommentierte der Landrat die Versammlung u.a. wie folgt:
„Der Tischler D. Hegemann aus Bielefeld (Reichskandidat der Partei) ergriff das Wort und begann vor der aus etwa 60-70 Personen bestehenden Versammlung sein sozialistisches Programm zu entwickeln, indem er zunächst die einzelnen Parteien des Reichstages als unqualifiziert zur Durchführung einer richtigen Sozialreform bezeichnete, dann Krankenkassen- und Unfallversicherungsgesetz kritisierte.“
Besonders erregt zeigte sich der Landrat Dr. Osterrath Ende Oktober 1884, als es die Rhedaer Sozialdemokraten wagten, eine Wahlveranstaltung anzukündigen, weil er über diese ungeheuerliche Tatsache erst durch die Zeitung informiert wurde. – Also schrieb er Rhedas Bürgermeister Fetkoeter am 26. Oktober 1884 folgendes:
„Soeben lese ich im ,Boten an der Ems‘, daß heute, 11 Uhr, eine Wahlversammlung bei Beermann stattfinden soll; dieselbe wird jedenfalls von einem Socialisten angemeldet und, wenn sich keine Handhabe zum Verbieten gefunden hat, polizeilich zu überwachen sein. Ich bitte um alsbaldigen Bericht über die Versammlung.“
Am 13. November 1884 konnte der Rhedaer Bürgermeister dem Landrat anzeigen, „daß der Cigarrenmacher Hermann Kreutzkamp hier, daß gen. Flugblatt nach der Leipziger Beschlagnahme vom 5.v.Mts. hier verbreitet hat, weshalb ich die strafrechtliche Verfolgung desselben … bei der Königlichen Staatsanwaltschaft zu Bielefeld bereits am 29.v.Mts. beantragt habe.“ (19) Der wohl rührigste Sozialdemokrat in Rheda, Hermann Kreutzkamp, wurde als Verbreiter sozialdemokratischer Schriften von der Staatsanwaltschaft überführt und am 13. Januar 1885 zu einer Geldstrafe von 50,- RM, ersatzweise 10 Tage Haft, verurteilt.
Dass die Arbeit der damaligen Sozialdemokraten trotz aller Überwachung und Verbote bei den Reichstagswahlen von Erfolg gekrönt war, beweist das Stimmenergebnis dieser Wahl; interessant ist jedoch auch die Entwicklung der Stimmenzu- und -abnahme in den Jahren des Sozialistengesetzes:
in a) Rheda b) Wiedenbrück c) Gütersloh
1871 a) 26 b? c?
1877 a) 135 b) 89 c) 5
1878 a) 89 b) 22 c) –
1881 a) 77 b) 50 c) –
1884 a) 117 b) 42 c)16
1884 (Ersatzwahl) a) 99 b) 31 c) 6
Nicht nur die Obrigkeit bespitzelte und überwachte die Arbeit der Sozialdemokraten in Rheda. Selbst Bürger der Stadt traten als Denunzianten auf und ließen der Polizei und den Behörden geheime Meldungen zukommen. Ein Gütersloher Polizeibeamter fühlte sich verpflichtet, dem Bürgermeister in Gütersloh folgende Meldung zu übermitteln, die dann „zuständigkeitshalber“ an den Rhedaer Bürgermeister weitergeleitet wurde:
„Von einem Kaufmann aus Rheda, der seinen Namen nicht gerne nennen will, wurde ich heute morgen vertraulich auf einen gefährlichen Socialdemokraten namens Georg Friedrichs von hier, wohnhaft bei dem Bäcker und Wirth Habig in Rheda, aufmerksam gemacht. Der Kaufmann sagte mir, daß Friedrichs öfters nach Gütersloh käme und mit Papier handele und dabei socialistische Schriften verbreite. Die Hauptniederlage der Schriften sei bei Friedrichs und Cigarrenmacher Kreutzkamp in Rheda. Über die Stellung der Socialdemokratie habe Friedrichs am Sonntag, 5. ds. Mts., im Eisenbahnzuge als er Abends 10 1/4 von Gütersloh nach Rheda gefahren ist, in empörender Weise Ausdruck gegeben, hauptsächlich über das ungerechte Verfahren der Gütersloher Polizei geschimpft wegen der Verhaftung der drei Socialdemokraten Behres, Grube und Karger. Als Zeuge wird der Buchhalter Buschkötter bei Kaufmann Poppenburg in Rheda genannt, der mit ihm in Coupe gesessen hat. Auch hier hat Friedrichs verschiedentlich über mangelhafte Gesetze im Deutschen Staate in empörender Weise geredet, so daß er hat Hiebe haben sollen.“
„.. . Erneut konnten Nummern der in Zürich erscheinenden verbotenen Zeitung ,Der Sozialdemokrat‘ beschlagnahmt werden; wieder erscheinen Rhedaer Adressen,“ diese Mitteilung erhielt Landrat Osterrath Anfang Januar 1885.
„Im Interesse der öffentlichen Sicherheit“ ordnete das Königl. Regierungs-Präsidium in Minden am 20. Januar 1885 an, namentliche Verzeichnisse über die hervorragenden Mitglieder der Sozialdemokratie und Personen, die sich öffentlich als Anhänger der Sozialdemokratie bekennen, aufzustellen. Der Rhedaer Bürgermeister ermittelte 38 Personen, die er am 23. Februar 1885 dem Landrat meldete.
Bürgermeister Fetkoeter hob in einer Randnotiz hervor, dass Hermann Kreutzkamp durch das Schöffen-Gericht zu Rheda zu einer Strafe von 50,- RM, evtl. 10 Tage Haft verurteilt worden ist (siehe Seite 120). Gegen Theodor Schulte wurde Anklage erhoben; eine Haussuchung fand am 20. Oktober 1884 statt. Auch Theodor Schulte, wie auch Fred Ummelmann und Wilhelm von Recklinghausen erhielten den „Sozialdemokrat“.
Der Wiedenbrücker Bürgermeister benannte 22 seiner Mitbürger als „hervorragende Mitglieder der Social-Demokratie“. Wohl zur Beruhigung des Landrates bemerkte der Wiedenbrücker Bürgermeister Brüggemann, „daß von den aufgeführten Personen die Verübung eines Verbrechens wohl nicht zu erwarten ist.“
Wie sich die Arbeit der Sozialdemokraten in Rheda und Wiedenbrück in den Jahren nach 1885 gestaltete, ist aus den Akten des Kreises Gütersloh und der Stadtverwaltung Rheda-Wiedenbrück nicht zu erkennen. Aus den sporadischen Mitteilungen und Berichten ist jedoch entnehmen, dass sie sich selbst durch die Bestrafung von Hermann Kreutzkamp nicht beeinflussen ließen, sondern ihre Aktivitäten auch bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahre 1890 weiterführten und sogar zu steigern wussten. Am 14. 2. 1887 schrieb der Wiedenbrücker Landrat nämlich an den Regierungspräsidenten:
„Rühriger ist, wie in der Regel, die sozialdemokratische Partei. Ihre Versuche, in Wiedenbrück eine sozialistische Veranstaltung abzuhalten, sind allerdings gescheitert, da jetzt glücklicherweise kein Wirt sein Lokal dazu hergibt. Dagegen fand gestern in Rheda eine Versammlung statt, zu welcher durch bunte, auffallende Plakate … eingeladen wurde …. die aber ruhig verlief.“
Ausführlich ging Landrat Osterrath erst wieder am 8. März 1888 in einem Bericht an den Regierungspräsidenten auf die sozialdemokratische Bewegung im Kreis Wiedenbrück ein. Aus Gütersloh und aus Wiedenbrück konnte der Landrat keine neuen Erkenntnisse melden. In Rheda entwickelten die Zigarrenarbeiter neue Aktivitäten. Hierzu führte Osterrath aus:
„In Rheda war auf Grund neuer Statuten wiederum eine Zahlstelle‘ des Unterstützungs Vereins deutscher Taback Arbeiter in Bremen errichtet, wie ich in
meinem letzten Bericht vom 9. 9. 87 Nr. 6742 ausführte. Ich habe mich später doch entschlossen (nach Correspondenz mit dem Kgl. Polizei Präsidenten zu Berlin), gegen diese Einrichtung vorzugehen und richtete an die Polizei Verwaltung zu Rheda die abschriftlich beiliegende Verf. v. 19.9.87. Der Vorsitzende des Bremer Vereins suchte darauf in einem Schreiben an die Rhedaer Polizei Verwaltung darzuthun, daß die diesseitige Ansicht falsch sei. Durch die ebenfalls in Abschrift angeschlossene Verf. v. 8.10.87 habe ich hierauf geantwortet, nur der Erfolg war, daß die Zahlstelle einging. Nach einiger Zeit constituierte sich in Rheda eine ,örtliche Verwaltungsstelle der Central-Kranken- und Sterbe-Kasse der Tabackarbeiter Deutschlands (n.G.) in Hamburg‘ . . . Da die Mitglieder dieser ,örtlichen Verwaltungsstelle‘ wiederum die hauptsächlichen Anhänger der sozialdemokratischen Lehre in Rheda waren, so war für mich kein Zweifel, daß damit wieder ein anderer Organisationsversuch der Sozialdemokraten gemacht werden soll. Indeß habe ich bis jetzt kein Mittel gefunden, hiergegen erneut einzuschreiten.“
Den Rhedaer Bürgermeister forderte Osterrath zugleich auf, mitzuteilen, ob diese örtliche Verwaltungsstelle noch bestünde, ob sie beobachtet würde und ob diese Verwaltungsstelle noch immer „aus Personen gebildet wird, welche als Sozialdemokraten bekannt sind.“ Bürgermeister Fetkoeter blieb nichts anderes übrig, als dem Landrat seine Vermutungen am 11. März 1888 zu bestätigen.
In Rage brachte dagegen Osterrath ein Bericht des Rhedaer Bürgermeisters vom 14. März 1888 über die „Abhaltung einer Tabackarbeiter Versammlung“. Der Bürgermeister schrieb:
„Euer Hochwohlgeboren verhehle ich nicht, gehorsamst zu berichten, daß gestern Abend 9 Uhr eine durch den Cigarrenmacher Georg Kersting hier vorschriftsmäßig am Tage zuvor polizeilich angemeldete öffentliche Arbeiter-Versammlung im Saale des Gastwirthes Beermann hierselbst abgehalten worden ist. Dieselbe konnte angeblich deshalb keinen Aufschub erleiden, weil von dem Cigarrenfabrikanten Höpker u. Cie schleunige Nachricht auf einem von ihnen gestellten Antrag verlangt habe.“ Die Geschäftsführung der Zigarrenfabrik Höpker u. Cie. hatte seine Zigarrenarbeiter gebeten, einer Annonce in der Gewerkschaftszeitung zuzustimmen, mit welcher neue Arbeitskräfte angeworben werden sollten. Die Wochenzeitschrift der Deutschen Tabackarbeiter „Der Gewerkschaftler“ machte die Annahme solcher Annoncen jedoch von der Zustimmung der örtlichen Arbeitnehmer dieses Gewerbezweiges abhängig. Die 43 anwesenden Mitglieder in der Tabackarbeiterversammlung stimmten mit Mehrheit dem Antrage der Fa. Höpker u. Cie unter der Voraussetzung zu, daß sich keine Senkung des Lohnniveaus ergebe.
Der Unmut von Osterrath über dieses Verfahren wird in einem Bericht an den Regierungspräsidenten deutlich. Osterrath schrieb u.a. am 20. März 1888:
„Ein Fabrikherr soll seine Arbeiter um Genehmigung bitten, daß er weitere Arbeiter annehmen darf! und fügt sich diesem Zwange! Da die jetzigen Tabackarbeiter in Rheda fast durchweg Socialdemokraten sind, werden sie wohl dafür sorgen, daß ihre neuen Kollegen gleicher Gesinnung sind oder werden.“
Über die Aktivitäten der Rhedaer und Wiedenbrücker Sozialdemokraten zu den Reichstagswahlen am 20. Februar 1890 fehlen Berichte. Die starke Zersplitterung im bürgerlichen Lager führte jedoch dazu, daß der sozial- demokratische Kandidat Paul Singer erstmalig in die Stichwahl kam, die am 1. März 1890 stattfand.
Am 24. Februar 1890 unterstrich der Rhedaer Bürgermeister gegenüber dem Landrat, daß die Zigarrenarbeiter „ohne Ausnahme der socialdemokratischen Partei angehören.“ Bürgermeister Fetkoeter schilderte die Unzufriedenheit der Zigarrenarbeiter – so hatte u.a. die bedeutendste Fabrik „die Zahl der Arbeiter auf die Hälfte reduziert“ – und ging kurz auf das Ergebnis der Reichstagswahlen ein. Hierüber schrieb der Rhedaer Bürgermeister: „Bei der am 20.d.Mts. vorgenommenen Reichstagswahl haben sich den unzufriedenen Cigarrenarbeitern andere meist herunter gekommene Subjecte angeschlossen, die durch den Trunk, Müßiggang oder durch Collision mit den Strafgesetzen in Vermögensverfall geraten sind.“
Zu der Stichwahl am 1. März 1890 verstärkten die Sozialdemokraten in Wiedenbrück und Rheda ihre Öffentlichkeitsarbeit. Die „Wiedenbrücker Zeitung“ berichtet hierüber am 27. Februar 1890:
„Singer soll bereits seit mehreren Tagen in unserem Wahlkreis anwesend sein, um die Wahlagitation zu leiten. Wie verlautet, sollen auch hier und in Rheda sozialdemokratische Versammlungen stattfinden.“
In der Stichwahl siegten die Konservativen klar über die Sozialdemokraten. Doch konnte Paul Singer für die Sozialdemokraten gegenüber der Reichstagswahl am 20. Februar noch über 900 Stimmen dazugewinnen.
Bismarck und der Deutsche Kaiser Wilhelm I. hatten geglaubt, durch eine staatlich gelenkte Sozialpolitik die Arbeiterschaft dem Einfluss der Sozialdemokratie entziehen zu können. Sie sollte offenbar die Arbeiterschaft ködern, um sie damit von ihrer sozialdemokratischen Führungsschicht zu isolieren. Dass Bismarck mit seiner Sozialreform und -gesetzgebung den Arbeitern nicht unmittelbar helfen wollte, gab er selbst zu, als er sagte: „Gäbe es keine Sozialdemokraten und nicht Leute, die sich vor Ihnen fürchteten, gäbe es keine Sozialreform!“
Auch Bismarcks Vorstellung, durch das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ die Sozialdemokratie auslöschen zu können, erfüllte sich nicht. Schon Ende 1889, Anfang 1890 zeichnete sich ab, dass er für eine weitere Verlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag nicht die notwendige Mehrheit erreichen würde.