Kapitel VI – Aus der Arbeit der SPD in Rheda von 1890 bis zur Jahrhundertwende

12 Jahre mußten die Sozialdemokraten illegal arbeiten und unter dem Druck des Sozialistengesetztes leiden. Nicht nur die eingetragenen Mitglieder spürten den Hass und den Druck der Kaiserlichen. Auch Sympathisanten und Familienangehörige spürten täglich das vergiftete politische Klima, erlebten Unterdrückungen, Beleidigungen und Benachteiligungen. Dem Vorsitzenden der SPD August Bebel – der selbst viele Jahre im Kerker verbrachte – ist es zu verdanken, dass Bismarck mit seinem Sozialistengesetz keinen Erfolg verbuchen konnte. Im Gegenteil, die Mitgliederzahl der SPD vergrößerte sich ständig.

Zum 1. Oktober 1890 wurde dieses Gesetz aufgehoben, nachdem es Bismarck im Januar desselben Jahres nicht gelungen war, den Reichstag von der Notwendigkeit einer Verlängerung zu überzeugen. Doch war es den Sozialdemokraten nicht einmal vergönnt, diesen, für die Partei so bedeutungsvollen Tag, in Ruhe zu feiern.

Trotz Anhebung des Sozialistengesetzes ging die Bespitzelung und die Überwachung der Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei unaufhörlich weiter. Im Hinblick auf die Aufhebung des Sozialistengesetzes machten sich die verantwortlichen Behörden schon vorher Gedanken über eine ausreichende Verstärkung der Polizeikräfte. Auch Landrat Osterrath musste über „die Zahl, Fähigkeit und Ausrüstung der Polizei „Executiv-Beamten“ dem Regierungspräsidenten von Pilgrim Bericht erstatten:

„Wenn in Folge der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes eine Verstärkung des Polizei-Executiv „Personals zur energischen Verhütung etwa möglicher
Unruhen für einzelne Gemeinden ins Auge zu fassen ist, so kann von den Gemeinden des hiesigen Kreises allein Stadt Rheda in Betracht kommen, da dort
die Zahl der für den sozialdemokratischen Candidaten bei der letzten Reichstagswahl abgegebenen Stimmen relativ erheblich ist,“ so Osterrath……..
Ferner ist in Rheda eine Aenderung vor sich gegangen durch die Eröffnung einer neuen Baubeschläge Fabrik: Siemons u. Co:, welche zur Zeit cirka 90 Arbeiter
beschäftigt und noch mehr Arbeiter beschäftigen will. . . . Der Fabrikherr geht energisch vor; er hat seinen Arbeitern den näheren Verkehr und Umgang mit den
sozialdemokratischen (Cigarren) Arbeitern in Rheda untersagt bei Strafe der Entlassung. . . . Endlich sei erwähnt, daß die Sozialdemokratie sich in Rheda fast
durchweg aus Cigarrenarbeitern rekrutiert. . . . Nehme ich den schlimmsten Fall an: daß auch die Fabrikarbeiter von Simons u. Co. Sozialdemokraten werden, so
könnte das allerdings in unruhigen Zeiten zu Unbequemlichkeiten führen, aber in ruhigen Zeiten kann eine Vermehrung der Polizisten daran nichts ändern!“
Osterrath äußerte sogar die Befürchtung, daß bei einer zusätzlichen Anstellung „beide nicht voll beschäftigte Polizeidiener an das Bummeln und Trinken
kommen“ könnten.
Aber die Sorgen der Behörden waren unbegründet. Die Rhedaer Sozialdemokraten forderten einen Polizeieinsatz nicht heraus.

Alle interessierten Bürger wurden durch eine Anzeige in der „Volkswacht“ zu der ersten öffentlichen Versammlung der Rhedaer Sozialdemokraten nach dem Sozialistengesetz am 14. September 1890 in die Gaststätte Beermann eingeladen. Die Versammlung war nur mäßig besucht. Trotzdem wurde der Beschluss gefasst, „mit allen Kräften die Gründung eines Allgemeinen Arbeitervereins für Rheda zu erstreben.“ Desweiteren wurde ein „Zusammenwirken mit den Bielefelder Genossen beschlossen.“ Schon am 1. Oktober nahm Hermann Kreutzkamp als Rhedaer Delegierter an der sozialdemokratischen „Parteiversammlung in der Centralhalle“ in Bielefeld teil und wurde zum Vorsitzenden dieser Versammlung gewählt. Am 12. Oktober fand „zur Feier des erloschenen Ausnahmegesetzes“ in Bielefeld ein sozialdemokratisches Volksfest statt. Über 2000 Personen nahmen an dieser Festveranstaltung teil und „aus Bünde, Herford, Rheda und natürlich aus den Nachbardörfern Bielefelds waren Delegationen der dortigen Parteigenossen erschienen, welche Grüße überbrachten.“ Anfang November wurde dann in Bielefeld der „Sozialdemokratische Verein für Bielefeld und Umgegend“ gegründet. Ob die Rhedaer Sozialdemokraten an dieser Gründungsversammlung teilnahmen, ist nicht bekannt, doch kann hiervon ausgegangen werden.

Auf einer Veranstaltung am Sonntag, den 9. November 1890 versuchten sich die Rhedaer Sozialdemokraten erneut zu organisieren. Für sieben Arbeiter der Fa. Simons in Rheda die diese Versammlung besuchten, hatte dies ein böses Nachspiel. Sie wurden von ihrem Fabrikherrn entlassen. Schon bei der nächsten Zusammenkunft der SPD in Rheda stand diese ungeheuerliche Tatsache im Mittelpunkt. Nach einer weiteren ausführlichen Diskussion über die Lage in der Fa. Simons wurde – laut Bericht des Bürgermeisters – einstimmig folgende Resolution verabschiedet:
„Die Versammlung protestiert gegen die Maßregeln in der Simonschen Fabrik und verpflichtet sich, die entlassenen Arbeiter zu unterstützen.“ Nach den Angaben des Bürgermeisters wurde diese Versammlung von „etwa 70 Personen“ besucht. Ob ein „Allgemeiner Arbeiterverein“ in Rheda gegründet werden konnte, muss bezweifelt werden, da die „Volkswacht“ hierüber nicht berichtet hat. Die Rhedaer Sozialdemokraten blieben aber weiterhin aktiv. Ab 1890 taucht in den Akten des Landratsamtes Wiedenbrück immer häufiger der Name des Rhedaer SPD-Mitgliedes Hermann Wolkenstein auf, der bis zu seinem Tode im Jahre 1947 aktiv die Arbeit der SPD in Rheda mitgestaltete. Viele Jahre vertrat er die Interessen der Sozialdemokratie und ihrer Wähler im Rat der Stadt.
In der Wohnung von Hermann Wolkenstein fanden Versammlungen und Besprechungen statt. Hierüber liegen keine Protokolle mehr vor, da diese 1933 von den Nationalsozialisten auf dem Rathausvorplatz verbrannt worden sind. Hauptsächlich fanden die damaligen Versammlungen jedoch in der Gaststätte des Holzhändlers und Wirtes Grimm statt. Soziale Fragen und die Lage der Arbeiter – besonders der Tabakarbeiter – standen im Mittelpunkt aller Diskussionen.
Die in Rheda aktiven Sozialdemokraten beschränkten ihre Tätigkeit nicht nur auf die Arbeit in der Partei, sondern bauten auch Hilfsorganisationen für die Arbeitnehmer außerhalb Rhedas mit auf. Am 6. August 1892 fand in der Gaststätte Grimm unter Leitung von Hermann Wolkenstein eine Mitgliederversammlung des Unterstützungsvereins deutscher Tabakarbeiter statt. In dieser Versammlung wurden die Bevollmächtigten für die Vertretung bei der Hauptstelle der Tabakarbeitervereine in Bremen gewählt.

Anfang Februar 1893 meldete Bürgermeister Fetkoeter dem Landrat, daß seit Oktober keine sozialdemokratischen Versammlungen in Rheda mehr stattgefunden hätten. Am 21. Mai 1893 fand eine Konferenz der Sozialdemokraten für die Wahlkreise Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe, Minden-Lübbecke, Herford-Halle und Bielefeld-Wiedenbrück in Herford statt. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Vorbereitungen für die bevorstehenden Reichstagswahlen. Tags darauf wurde für die Wahlkreise des Regierungsbezirks Münster und für den Wahlkreis Paderborn-Büren eine weitere Konferenz in der Privatwohnung von Hermann Kreutzkamp in Rheda mit denselben Beratungsschwerpunkten durchgeführt.

Ausführlich schilderte der Wiedenbrücker Bürgermeister Schmitz am 30. August 1894 dem Landrat den „Stand der socialdemokratischen Bewegung“ in seiner Stadt. Nach der Auffassung von Schmitz konnte von einer sozialdemokratischen Bewegung bzw. von sozialdemokratischen Umtrieben in Wiedenbrück nicht die Rede sein. „Jedoch ist zu erwähnen“ – so der Wiedenbrücker Bürgermeister weiter -, „daß der Gauverein für Bildhauer für die Provinz Westfalen, ein Glied des Verbandes Bildhauerverein für Deutschland, welcher vollständig auf dem Boden der Socialdemokraten steht, versucht unter den hiesigen Bildhauer-Kreisen, auch bei den verwandten Gewerben, Einfluß zu gewinnen. Dieses äußerte sich in einer hier abgehaltenen Besprechung, welche vielleicht vor 3 Wochen an einem Sonntage in dem Lokale eines hiesigen Wirtes stattgefunden hat, und zu welcher, nachdem zu dieser Besprechung mittelst lithographierten Einladungsschreiben eingeladen war – ein notorischer Socialdemokrat aus Münster – ein Bildhauer, welcher zugleich Einberufer war, sowie angeblich auch Genossen aus Bielefeld hierübergekommen waren. Über das Ergebnis der vom Bürgermeister Schmitz angesetzten Untersuchung liegen keine Unterlagen vor. Am 27. Februar 1895 berichtete der Wiedenbrücker Bürgermeister dem Landratsamt in Wiedenbrück,“ daß sich unter den sogenannten Künstlern namentlich – freilich sind dieselben zugereist, um nach einiger Zeit auch wieder zu gehen – Socialdemokraten befinden, dafür bürgt z.B. der Umstand, daß das socialdemokratische Hauptorgan ,Der Vorwärts‘ von mehreren Personen aus diesen Kreisen gehalten wird.“ Ein Überspringen der sozialdemokratischen Ideen auf andere Bürger seiner Stadt schloß der Wiedenbrücker Bürgermeister jedoch aus.

An dem „Provinzial-Parteitag für das östliche Westfalen und die Lippischen Fürstentümer“ der SPD am 13. Januar 1895 nahm Hermann Kreutzkamp aus Rheda als Delegierter teil und beteiligte sich an der Diskussion des Parteitages. (16) „Um eine regere Agitation im ganzen Wahlkreise“ und um den Aufbau einer Kreisorganisation ging es in einer Konferenz der Sozialdemokratie im Wahlkreis Bielefeld-Wiedenbrück am 3. März 1895. Außer „Wiedenbrück, Gütersloh und Rietberg“ waren alle Orte des Wahlkreises vertreten.
Bis zu den Reichstagswahlen im Jahre 1898 wurde über die Rhedaer Sozialdemokraten nichts Wesentliches berichtet. Lediglich zu den seit 1890 stattfindenden Maifeiern war der Bürgermeister von Rheda beim Landrat in Wiedenbrück mit kurzen Aktennotizen vorstellig geworden, ohne jedoch Besonderheiten meiden zu können.Im Jahre der Reichstagswahl – 1898 – waren die Sozialdemokraten im Kreise Wiedenbrück besonders aktiv, was von den Konservativen mit äußerstem Mißtrauen beobachtet wurde. Der Wiedenbrücker Bürgermeister Schmitz schrieb am 23. Mai 98 dem Landrat u.a.: „Die Agitation der Sozialisten-Partei ist bislang um vieles eindringlicher wie die der Centrumspartei.“ Die Sozialdemokraten sahen die Möglichkeit, den Wahlkreis Bielefeld-Wiedenbrück bei der Reichstagswahl direkt zu erobern. Aus diesem Grunde verstärkten sie die Agitation besonders intensiv im „schwarzen“ Kreis Wiedenbrück. Auch die Rhedaer Sozialdemokraten verstärkten ihre Öffentlichkeitsarbeit. Rhedas Bürgermeister versuchte, diese Anstrengungen im Keime zu ersticken, indem er eine Versammlungsgenehmigung unzulässigerweise von vornherein verweigerte. Hermann Wolkenstein, damaliger Sprecher der Rhedaer SPD, protestierte sofort. Daraufhin empfahl der Landrat dem Bürgermeister dringend, seine Verfügung an Wolkenstein zurückzuziehen und forderte ihn auf, umgehend zu berichten. Der daraufhin vom Rhedaer Bürgermeister verfasste Bericht und die darin enthaltenen Begründungen reichten dem Landrat nicht aus, die von Wolkenstein gewünschte Bescheinigung zur Abhaltung der Versammlung zu verweigern. Zwei Schreiben verließen am gleichen Tage das Landratsamt in Wiedenbrück. Hermann Wolkenstein erhielt durch das erste Schreiben die Mitteilung, dass das Versammlungsverbot des Bürgermeisters aufgehoben sei und in Zukunft Bescheinigungen über die Anmeldung einer Versammlung „ex Offico“ – von Amts wegen – ausgestellt würden. Im zweiten Schreiben erteilte der Landrat dem Rhedaer Bürgermeister eine weitere Belehrung über die rechtliche Handhabung derartiger Angelegenheiten.
Die von Wolkenstein beantragte Veranstaltung der Sozialdemokratischen Partei fand am 12. Juni 1898 auf der Deele seines Hauses statt. Knapp 70 Bürger waren gekommen, um die Ausführungen des SPD-Reichskandidaten im Wahlkreis Bielefeld-Wiedenbrück, Gustav Ulrich, zu hören.

Bei den Reichstagswahlen am 16. Juni 1898 erreichte keiner der Kandidaten die erforderliche Mehrheit. Eine Stichwahl musste entscheiden. Wiederum organisierten die Rhedaer Sozialdemokraten eine öffentliche Wahlveranstaltung, die diesmal in der Gastwirtschaft Habich stattfand. Der Redner – Redakteur Hoffmann aus Bielefeld – rief alle Sozialdemokraten auf, bei der bevorstehenden Stichwahl ihre Stimmen abzugeben, “ zumal seitens des Centrums die größten Anstrengungen gemacht würden. Das Centrum habe im Reichstage nicht die Interessen der Arbeiter, sondern stets nur die Interessen der katholischen Kirche, sowie der besitzenden Klasse vertretene“.

Der aktive Einsatz der Rhedaer Sozialdemokraten lohnte sich. Sie konnten ihren Stimmenanteil bei der Reichstagswahl im Jahre 1898 um 63% steigern. Dieser Erfolg veranlaßte den Bürgermeister von Rheda in seinem halbjährlichen Bericht an den Landrat zu einer kritischen Würdigung, indem er am 16. 8. 1898 schrieb:
„Die hohe Zahl der in hiesiger Stadtgemeinde abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen rührt zum Theil daher, daß vom Wahlkomitee in Bielefeld die größten Anstrengungen gemacht sind, ihren Candidaten zum Siege zu verhelfen. Wochenlang vor der Wahl kamen Scharen von Socialdemokraten von Bielefeld angefahren, um sozialdemokratische Wahlzettel zu vertheilen. Die Zahl dieser Leute, welche Sonntags mit dem Frühzuge hier ankamen und kein Dorf und kein Haus verschonten, belief sich häufig auf 100.“…. „Und es störte sie auch nicht, daß in Gütersloh zwei Bielefelder Sozialdemokraten, die Flugblätter verteilten, verprügelt wurden.“

Der Wiedenbrücker Bürgermeister Schmitz nahm seinen Bericht vom 29. August 1898 zum Anlass, auch die Entwicklung der für die SPD abgegebenen Stimmen aufzuzeigen. „Ein Anwachsen der socialdemokratischen Bewegung bei den letzten Wahlen zum Reichstag ist in meinem Bezirke nur in sehr geringem Maße bemerkbar gewesen. Ich lasse die Stimmenanzahl der socialdemokratischen Partei hier folgen von dem Zeitpunkt ab, von welchem die ersten Reichstagswahlen gehalten wurden.
1877 = 89 Stimmen 1878 = 22 Stimmen
1881 = 50 Stimmen 1884 = 31 Stimmen
1890 = 60 Stimmen 1893 = 42 Stimmen
1898 = 47 Stimmen 1898 (Stichwahl) = 50 Stimmen.“ (26)
Bürgermeister Schmitz bemerkte weiter, dass die für die SPD abgegebenen Stimmen von den Industriearbeitern kommen müssten, denen sich „unzufriedene Elemente angeschlossen“ hätten.

Ihr Wahlziel, den Wahlkreis Bielefeld-Wiedenbrück direkt zu gewinnen, erreichten die Sozialdemokraten diesmal noch nicht. Im Jahre 1899 versuchte Hermann Wolkenstein erneut, einen Ortsverein der SPD in Rheda zu gründen, was ihm jedoch nur vorübergehend gelang. Bürgermeister Schulte-Mönting berichtete hierüber dem Landrat am 7. August 1899 folgendermaßen: „Ein unter dem Vorsitze des Cigarrenmachers Hermann Wolkenstein hierselbst ins Leben getretener Socialdemokratischer Verein scheint wenig lebensfähig zu sein. Von den angemeldeten 12 Mitgliedern sind mehrere verzogen und Neuanmeldungen nicht erfolgt.