Kapitel VIII – Die „Freie Turnerschaft Rheda“

Die Arbeiterbewegung war bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Stütze des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der damals etwa 4.000 Einwohner zählenden Stadt Rheda. Neben einer fest organisierten Arbeiterjugend gab es außerhalb des SPD-Ortsvereins Rheda neben den Gewerkschaften einen Arbeitergesangverein, einen Arbeiterradfahrerverein und den Arbeiterturnverein.

Am 22. August 1909 fand nach internen Vorbereitungen die erste Versammlung der „Freien Turnerschaft“ in Rheda statt. Es „ließen sich 59 Mitglieder einzeichnen“. In der Gaststätte von August Kipp fanden zunächst die Turnabende und die Mitgliederversammlungen statt; als die Gaststätte nach dem Ersten Weltkrieg veräußert wurde, wählte man die Wirtschaft von Hermann Wolkenstein zum Vereinslokal.

Jugendliche bis zum 17. Lebensjahr waren von der Zahlung der Mitgliedsbeiträge befreit; diese „Zöglinge“ hatten jedoch kein Stimmrecht in den Mitgliederversammlungen. Die aktive Mitglied-schaft endete mit dem Erreichen des 28. Lebensjahres. Im Falle einer Auflösung war vorgesehen, daß das Vereinsvermögen den Mitgliedern auszuhändigen war.

Aus dem ersten Jahresbericht vom 8. Januar 1910 ist zu entnehmen, daß auch die Rhedaer Zigarrenarbeiter die „Freie Turnerschaft Rheda“ mit einer Spende in Höhe von 26,20 Mark unter-stützten.

Die „Gründungsfeier“ des Arbeiterturnvereins Rheda (Westf.) fand am 2. Ostertag im Jahre 1910 unter Mitwirkung des Arbeitergesangvereines statt. Aufgrund des ausgezeichneten Besuches dieses Festes konnte ein Überschuß von 40,60 Mark der Vereinskasse zugeführt werden.

Das erste Protokollbuch der „Freien Turnerschaft Rheda i. Westf.“ endet am 16. August 1913. Zu dieser Zeit zählte der Verein schon weit über 100 Mitglieder. Die „Volkswacht“ dokumentierte die ständige Tätigkeit dieses Sportvereines bis zu seiner Auflösung im Jahre 1933.

Nach der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus bemühten sich ehemalige Mitglieder der „Freien Turnerschaft Rheda“ um eine Wiedergründung. Ein Schreiben aus dem Jahre 1945, welches diese Bemühungen dokumentiert folgt nachstehend:

„Sozialdemokratische Partei, Rheda i. Westf –
An den Herrn Kommandanten des Militär Governement, Kreis Wiedenbrück. Da die Verhandlungen wegen Gründung eines gemeinsamen Sportvereins in
Rheda an den Starrsinn des ehemaligen Sportvereins von 1861 gescheitert sind, und zwar, weil sich der Verein von seiner Tradition nicht trennen will, unterbreiten wir dem Herrn Kommandanten die Bitte uns zu gestatten, den von den Nazis 1933 verbotenen Arbeiter Turn- und Sportverein wieder ins Leben zu rufen.

Wir Sozialdemokraten und mit uns der zu uns gehörige Arbeiter Turn- und Sportverein, können uns damit nicht einverstanden erklären, dass dieser Sportverein von 1861 seinen Namen weitertragen will und sich mit anderen Vereinen verbinden will unter diesen Namen und zwar aus folgenden Gründen:

1. Unsern Verein wurden 1933 sämtliche Geräte und Musikinstrumente von den nazihörigen Vereinen beschlagnahmt und diesen zur Verfügung gestellt.
2. Trugen die Plakate und Schriften im Kopfend gross das Hakenkreuz und wurden sämtliche Mitglieder in nationalsozialistischen Sportorganisationen erfasst und erzogen
3. Ihre Spiel- und Sportplätze wurden in Hermann Göring Kampfbahn umgetauft u.s.w.
4. Wollen wir Sozialdemokraten und besonders unsere Sportler nicht an eine Tradition erinnert werden, die ganz im Sinne des Potsdamer Kadavergehorsams steht und die eine so schmutzige Vergangenheit hat.
5. Wünschen wir, dass die Sportler durch den Sport eine körperliche und seelische Befriedigung finden, und nicht wie es bis jetzt war durch Sport eine militärische Vorbildung erhalten.

Wir bitten daher den Herrn Kommandanten nochmals uns zu gestatten den 1933 von den Nazis verbotenen Arbeiter Turn und Sportverein, Rheda in Westf. unter Oberleitung des Sozialdemokratischen Parteivorstandes, dessen Fragebogen Sie bereits geprüft haben, wieder ins Leben zu rufen. Wir garantieren, dass der Sport dem Menschen wieder zur Erholung dient und die Sportler im wahrsten Sinne des Wortes zu ehrlichen Demokraten erzogen werden.

Vorstandsmitglieder des Arbeiter Turn und Sportvereins sind folgende Personen,
dessen Fragebogen bereits von Ihnen geprüft sind.
1. Vorsitzender: Heinrich Brune
2. Kassierer: Max Schubert
3. Schriftführer: Hans Ortmeier
4. Turn und Sportwart: Heinrich Heineke
5. Beisitzer: Ignaz Nahmann
6. Revisor: Franz Hermann

In der Hoffnung, dass Sie Herr Kommandant unserm Wunsch wohlwollend gegenüberstehen, danken wir im voraus ganz ergebenst!
Sozial Demokratische Partei.
Ortsgruppe Rheda i. Westf.“

Mit Schreiben vom 16. Oktober 1945 teilte der Bürgermeister dem Vorsitzenden Heinrich Brune mit, daß nach einer Mitteilung der Militärregierung der Arbeiter Turn- und Sportverein wieder zugelassen sei. Daß eine Aufnahme des Sportbetriebes nicht erfolgte, ist nach Auskunft von Heinrich Heineke darauf zurückzuführen, daß von der ehemaligen „Leitung der Arbeiterturnvereine“ kein Signal erfolgte und kurze Zeit später eine Einigung mit den ortsansässigen Sportvereinen erfolgte.