Der letzte Bürgermeister der ehemals selbständigen Stadt Rheda (Westf.) schilderte gegenüber Karl-Heinz Fieber und Jochen Sänger seine Eindrücke in den letzten Kriegstagen und wie er nach Rheda zurückkehrte. Über dieses Gespräch liegt eine Videoaufzeichnung vor. Außerdem liegt ein Interview mit Heinrich Heineke vom 6. März 1989 – von Reinhard Lüpke -geführt.Aus diesem Interview sind die Fragen und Antworten übernommen, welche sein Erleben in den letzten Kriegstagen und seine Heimkehr nach Rheda schildern.
Frage: Haben Sie denn von der Entnazifizierung hier in Rheda vor Ort etwas mitbekommen? Waren Sie vielleicht einmal in einem Entnazifizierungsausschuß?
Heinrich Heineke:
Nein, ich war in keinem Entnazifizierungsausschuß. Das war doch sowieso alles ein Hohn. Ich hätte es keinem übel genommen, wenigstens den Leuten nicht, die nicht irgendwie an Schlechtigkeiten direkt beteiligt waren. Aber die Deutschen haben ja nicht den Mut gehabt zu sagen: „Jawohl, leider Gottes haben wir das mitgemacht. Es tut uns leid, wir waren es.“ Jeder hat gesagt: „Ich war nicht dabei.“ Sowas ist doch Feigheit. Ich muß immer noch daran denken, wie ich bei der Hilfspolizei war. Wir hatten doch von Polizeiarbeit keine Ahnung, das konnte mir keiner übelnehmen, ich war Werkzeugmacher und kein Polizist. Sie hatten sie ja alle entlassen. Und den Zalven habe ich mir damals gekauft. Er wollte nicht mit der Sprache heraus, und dann war er auf einmal verschwunden. Ich habe gesagt: „Wie ist das eigentlich, wer hat dahinter gesteckt?“ Das wollte er ja nicht sagen. Dazu habe ich ihn in der Zeit nicht gekriegt. Erstens einmal, als ich wiederkam, war man ja froh, daß der ganze Mist vorbei war. Es stand einem ja bis hier. Dann haben die Amerikaner den Gerling wiedergeholt. Er hatte gesagt: Jawohl, ich war in der Partei.“
Aber um da wieder etwas mehr Ordnung zu kriegen, haben sie ihn wiedergeholt. Die Polen waren die Schlimmsten, die haben sich hier auch nicht so benommen, wie es sein sollte. Wir durften nichts sagen. Wenn etwas war, mußten wir die amerikanische Militärpolizei anrufen. Die haben kein langes Federlesen gemacht, haben die Polen einfach über den Haufen geknallt. Die Russen nicht, die haben sie gleich weggeschafft. Einmal war ich mit Gerling im Rathaus. Er stand auf der Treppe. Da kam eine Frau, die ihn auch ganz gut kannte und sagte: „Herr Gerling, Sie wissen doch, wir haben doch auch keinem etwas getan, wir waren doch auch nicht dabei usw.“ Da sagte der Gerling zu der Frau: „Bin ich denn der einzige Nationalsozialist hier in Rheda gewesen?“
Frage: War er Polizeichef?
Heinrich Heineke:
Nein, er war Polizeimeister. Chef war Zalven, der war Polizeileutnant. Als sie bei mir Haussuchung gemacht hatten, waren Fremde dabei, Kriminalbeamte in Zivil.
Frage: Und nach dem 2. Weltkrieg sind Sie noch Bürgermeister in Rheda geworden. Wie sind Sie dazu gekommen?
Heinrich Heineke:
Daran war die CDU selbst schuld. Mein Vorgänger war ein Realschuldirektor Kleine. Und bei der Neuen Westfälischen arbeitete als Redakteur der Schwiegersohn des Herrn Klein, Sohn unseres Pastors. Ich war schon im Rat, Stellvertreter von Herrn Klein. Herr Klein war von der CDU, ein sehr loyaler Mann, man konnte gut mit ihm fertig werden. Er war wahrscheinlich zu liberal für die CDU. Das war 1964. Es gab auch einige jüngere Leute, die gern an den Drücker wollten. Ich war 10 Jahre Betriebsratsvorsitzender bei Ruhrstahl und hatte genug zu tun. Nun sollte wieder die Wahl sein. Der erste Stadtdirektor nach dem Krieg war Herr Rößler, er war später auch im Parlament. Nun hatte die CDU den Einfall, es sollte ein jüngerer Bürgermeister werden. Der Klein wäre von allen Parteien wiedergewählt worden, auch von uns. Aber sie haben diesen Mann nicht einmal mehr als Parlamentarier aufgestellt, sondern haben ihn ganz kalt gestellt. Da ist die FDP – sie hatte damals mit der CDU koaliert – so wütend darüber gewesen, daß sie sich zusammengesetzt haben mit dem ersten Stadtdirektor Rößler und beschlossen haben: „Die stellen den Bürgermeister nicht mehr.“ Von meiner Partei waren auch nicht alle meine Freunde, da wären andere gewesen, die es gern gemacht hätten, aber die hatten sich wieder mit dem Rößler verkracht. So kam er zu mir und sagte: „Du wirst Bürgermeister“. Ich sagte: „Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Ich habe genug am Halse in Brackwede. Das genügt mir vollständig.“ Aber zuletzt hat er mir gesagt: „Wenn Du mir das antust, sind wir Freunde gewesen“. So ist das meistens. Was blieb mir anderes übrig? Ich mußte „ja“ sagen.
Frage: Sind Sie als Reaktion auf die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in die SPD eingetreten nach dem 2. Weltkrieg?
Heinrich Heineke:
Nach dem 2.Weltkrieg bin ich sofort in die SPD eingetreten. Ich habe den Ortsverein hier mitgegründet.
Frage: Haben die an Revolverdrehbänken gearbeitet?
Heinrich Heineke:
Sie haben die Außenhüllen von den Nadellagern gedreht. Ich habe auch Ärger gekriegt. Die Mädchen kamen morgens her und da sollten schon soundsoviel fertig sein. Die Mädchen waren manchmal auch störrisch. Sie können sich vorstellen, sie waren nur halb satt und noch nicht einmal das. Und wenn sie nicht wollten, haben sie dauernd den Stahl abgebrochen, die kostbaren Widia-Stähle, die sowieso so schlecht zu kriegen waren. Die konnten einem Ärger machen, aber was wollte man dagegen machen? Sollte man gegen die Mädchen vorgehen? Es waren welche dabei, denen konnte man sagen, was man wollte, auch über andere Mädchen sagen lassen: Laßt das sein. Seid vernünftig.“ Wir konnten doch nichts daran ändern. Wir wurden doch zur Verantwortung gezogen, wenn die Stückzahl nicht da war. Ich war froh, als ich da herauskam. Das war nachher nicht mehr zu ertragen. Wie man mir erzählt hat, ging es so weiter, daß der Pförtner – das hätte ich ihm nie zugetraut – mit der Pistole herumlief. Meine Frau hatte früher einmal beim Simonswerk gearbeitet. Sie haben da die Leitwerke, die hinten an den Bomben sitzen, hergestellt. Meine Frau wurde verpflichtet, wieder da anzufangen, das war 1940. Und 1941, als das mit Rußland losging“ waren noch keine russischen Gefangenen da, es waren ja alles Deutsche, da liefen Angehörige hochangesehener Familien -natürlich auch in der SA – mit Gewehren im Betrieb herum, obwohl es nichts zu bewachen gab. Die Frauen, meine Frau auch – sie war hochschwanger- haben sich darüber unterhalten: „Die Jungs sind in Rußland, und hier laufen sie mit der Flinte im Betrieb herum.“ Da sagte er zu meiner Frau: „Wenn ich Dich nicht so genau kennen würde und Du nicht hoch in Umständen wärst, dann brächte ich Dich dahin, wo Du hingehörst.“ Und der gleiche Mann wagte es nach dem Krieg, – denn, mein Stiefvater war Viehhändler und Fleisch war damals knapp-, sie zu fragen, ob wir noch Ferkel haben. Da hat meine Frau gesagt: „Wenn Du jetzt nicht sofort verschwindest, dann sollst Du mal sehen, was mit Dir passiert.“
Ich bin nicht erst nach Friedensschluß wiedergekommen. Ich habe die Parole gehabt: „Bloß nicht hinter Stacheldraht. Weg hier.“ 1945 war ich bei den Pionieren im Luftkriegseinsatz auf der Westfalenhütte in Dortmund. Karfreitag bekamen wir den Befehl: „Alles zum Gefechtsstand.“ Die Kompanie wurde eingeteilt zu je 15 Mann mit Unteroffizier. Wir sollten uns nach Bünde in Westfalen durchschlagen, obwohl der Kessel schon zu war. So etwas Idiotisches muß man sich einmal vorstellen. Wir haben uns auf den Weg gemacht. Aber ich bin nicht nach Bünde, sondern nur bis Rheda gekommen und habe gedacht: „So, jetzt ist Feierabend.“
Frage: Wann war das?
Heinrich Heineke:
Das war an dem Karfreitag 1945, als die SS kurz vor Kriegsende Gegner des Naziregimes in die Bittermark (im Süden von Dortmund) brachte und erschoß. Da steht heute ein Mahnmal. An dem Freitag wurden wir in Marsch gesetzt. Wir drei aus unserer Kompanie haben die anderen laufen lassen. Wir sind durch die Fronten gekommen, Gott sei Dank, und zu meiner Schwiegermutter gegangen, sie wohnte in Neubeckum. Am 1. Ostermorgen, früh um 4 Uhr haben wir ans Fenster geklopft. Sie wäre bald aus dem Bett gefallen, als sie hörte, daß wir da waren. Wir hatten unsere Panzerfaust genommen und sie schon vorher unter eine Brücke geschoben, unsere Flinten haben wir auseinandergenommen und weggeschmissen.
Fast hätten uns unterwegs noch die Amerikaner erwischt. Freitags sind wir los und bis Hamm gekommen. Wir hatten keine Ahnung, ob da nun ein Zug ging oder nicht. Ich sagte zu meinen Kumpeln – der eine war Sudetendeutscher, der andere war Schlesier, wo die geblieben sind, weiß ich auch nicht -: „Wir gehen auf den Bahnhof, vielleicht fährt noch ein Zug.“ Wir kommen auf den Bahnhof, da stehen ein Hauptmann und ein Major. Und wie das früher war: Männchen machen, Palaver runterleiern. Da fragt der Major: „Was wollt ihr denn? Wollt ihr den Krieg für euch alleine machen? Ab, weg in die Auffangstelle in Hamm.“ Dort war eine Garnison. Wenn man in die Auffangstelle geht, kommt man zu einem anderen Truppenteil, nicht zu dem, von dem man getrennt ist. Ich bin überzeugt, daß in Deutschland viele umgekommen oder vermißt sind, von denen kein Mensch weiß, wo sie geblieben sind, denn beim anderen Truppenteil kennt sie keiner.
Wir sind wieder losgezogen und wollten über den Lippe-Seiten-Kanal, über eine Brücke. Da kamen Feldjäger: „Halt! Wo wollt ihr hin? Hier kommt keiner rüber.“ Die Eisenbahnbrücke war kaputt, lag im Lippe-Seiten-Kanal. Wir sind dann doch über die Eisenbahnbrücke geklettert und weg. Auf der anderen Seite trafen wir dann einen Zivilisten und haben ihn gefragt: „Was ist hier denn eigentlich los?“ Wir erfuhren, daß der Ring um das Ruhrgebiet zu war. Die Amerikaner standen in Ahlen mit ihren Panzern. Auf der Zeche Heessen war Munition deponiert, vielleicht waren Bomben darauf gefallen, immer explodierte da etwas. Wir sind weitergezogen. Auf einmal kommen aus einer Wirtschaft ein Feldwebel und ein Zivilist heraus. Der Feldwebel fragt natürlich: „Wo wollt ihr denn hin?“ Wir sagten: „Wir haben Befehl nach Minden in Westfalen.“ Er sagte: „Seid ihr verrückt? Wenn ihr hier durchgeht, da liegt die Garnison in Stellung, der Alte steckt Euch gleich mit in die Löcher.“ Der war noch vernünftig. Der Zivilist war ein Schlachtermeister. Inzwischen war es Abend geworden. Wir waren morgens losgegangen von Dortmund nach Hamm und mußten irgendwo schlafen. Da sagt der Schlachtermeister zu uns: „Ich habe da einen schönen Luft-schutzgraben, überdacht, es sind Decken drin, da könnt ihr übernachten.“ Inzwischen hatte sich noch einer von der Luftwaffe zu uns gesellt, ein Verwundeter. Er hatte einen Entlassungsschein, kam von Dortmund und wollte nach Hause, nach Süddeutschland. Wir haben uns da einquartiert, hatten Decken genug, und so war es einigermaßen warm. Es dauerte nicht lange, da hörten wir Schüsse, 20 Minuten lang. Wahrscheinlich wurde die Brücke von den Amerikanern beschossen. Ich dachte: „Das kann ja gut werden. Nun bist du kurz vor zu Hause und kriegst noch einen verpaßt.“ Es ging aber gut. Wir haben die Nacht da verbracht. An Schlafen war kaum zu denken, aber wenn man müde ist, schläft man immer etwas. Am nächsten Morgen konnte man sehen, daß sie die Bäume getroffen hatten. Wir haben uns wieder auf den Weg gemacht, sind zurückgegangen über die Brücke, da war kein Deutscher mehr da, links am Lippe-Seiten-Kanal runter. Da lagen die von der Garnison, hatten Löcher gemacht, lagen alle da drin und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Da haben wir aber aufgepaßt. Es waren Offiziere dabei, und um die haben wir einen großen Bogen gemacht. Später kam noch eine Brücke, und auch da war kein Posten. Gegenüber war eine Wirtschaft. Gerade wollten wir hinüber, da kam ein Feldjäger heraus: „Wo wollt ihr hin?“ Der Verwundete von der Luftwaffe, der bei uns war, hatte Papiere bei sich und zeigte sie ihm. Aber wir hatten keinen Marschbefehl, ich sagte so: „Wir sollen uns zurückziehen nach Bünde in Westfalen. Der Truppe ist jede Unterstützung zu gewähren. Wir sind eine technische Truppe.“ Ich tat so, als ob ich die Papiere herausholen wollte. „Dann macht, daß ihr wegkommt. Aber ob ihr durchkommt, das weiß ich auch nicht.“ Da hatten wir es geschafft. Wir waren raus aus Hamm. Was für ein Wahnsinn! Da liefen Jungs, 14 – 15jährige, mit dem Gewehr herum, von Thüringen gekommen, mußten abends alle aus dem Zug heraus und wußten nun nicht, wohin. Ich habe gesagt: „Schmeißt die Gewehre weg.“ Wir mußten weiter. Rechts war die Autobahn. Ich konnte die Schornsteine vom Zementwerk Friedrichshorst sehen, die kannte ich, das war meine Richtung, da mußte ich hin. “ Wenn du da bist, dann wirst du wohl gut aufgehoben sein,“ dachte ich. Wir sind nicht mehr der Straße nachgegangen. Die Zivilisten strömten alle aus diesem Kessel raus. Es gingen die verschiedensten Gerüchte um. Man konnte an den Bauernhäusern sehen, wo weiße Fahnen heraushingen, da ist der Amerikaner gewesen. Wie der Wirt erzählte, wurde noch am Morgen geschossen, da lag ein toter Gaul. Wir sind querfeldein, über Zäune weg, immer in unsere Richtung. Wir hätten gern Zivilzeug gehabt. Die ersten Bauern haben gesagt: „Macht bloß, das ihr wegkommt. Wir wollen mit euch nichts zu tun haben. Die Amerikaner waren hier, wenn die euch erwischen, seid ihr sowieso erledigt.“ Beim nächsten Bauern haben wir es noch einmal versucht. Er sagte: „Guckt, da liegt sie, die Majorsuniform. Ich kann euch nichts mehr gehen.“ Wir gingen weiter, immer weiter. Immer auf diese Schornsteine zu. Wir kamen – es war Samstag vor Ostern – aus einem kleinen Wald heraus, da sahen wir auf der Straße von Beckum nach Enniger ameri-kanische Panzer. Auf einzelnen saßen unsere Kumpel, die sie erwischt hatten. Am Tage über diese Straße zu kommen, war nicht möglich. Wir versteckten uns hinter einem Wall und mußten da liegenbleiben bis abends. Gott sei Dank war es trocken und die Sonne schien. Das nächste Bauernhaus war ziemlich weit weg, die konnten uns nicht sehen. Ich drehe mich um und sehe zwei Soldaten am Waldrand stehen. Nun war das aber so weit weg, daß man nicht erkennen konnte, was für welche. Die hatten ein Fernglas und beguckten uns, wir hatten kein Fernglas und guckten da hin. Was machen wir nun? Ich hatte auch nichts mehr bei mir. Seitengewehr usw. hatten wir alles weggeschmissen. Ich hatte nur die Gasmaske bei mir. Die hatte ich immer in der Hand, und damit konnte ich zuschlagen. Wir wollten wissen, wer das ist. Ich bin an dem Wall entlang gekrochen. Da kam mir der eine schon entgegen Es waren zwei deutsche Obergefreite. Fragt der eine: „Wäs macht ihr denn hier?“ Beide waren Bauernsöhne, sie waren abgehauen. Sagt der eine: „Zwei von meinen Brüdern sind gefallen. Ich möchte gern davonkommen.“ Da haben wir uns dahin gelegt und haben uns beraten. wir hatten nur ein Fernglas, ein Messer im Stiefel, Pistole und Kompaß, weiter hatten wir nichts. Der eine sagte: „Wer sich uns in den Weg stellt, der muß sterben.“
Hinten bauten die Amerikaner Flakgeschütze auf. Wir mußten also liegenbleiben, bis es dunkel wurde. Die Beiden hatten eine Karte. Sie wollten nach Oldenburg. Wir haben ihnen gesagt, sie müßten auf Münster zu, über die Bahn. Wir haben sie abends noch weggebracht, haben ihnen die Schornsteine vom Zementwerk „Anna“ gezeigt, das gehörte zu Enniger, und ihnen gesagt: „Da müßt ihr drauf zugehen. “ Inzwischen war es aber Nacht geworden, und wir hatten unsere Richtung verloren. Wir mußten in die entgegengesetzte Richtung. Wir kamen an ein Bauernhaus und hörten schon von weitem ein Spektakel da drinnen. Der Bauer kam heraus, sah uns in Uniform und sagte: „Macht bloß, daß ihr wegkommt, die Ausländer und Fremdarbeiter…“ Wir wollten ja nicht bleiben, sondern nur wissen, in welcher Richtung Friedrichshorst liegt. „Da ist das!“ sagte er. Der Horizont ist ja manchmal ein bißchen heller, da sahen wir wieder die angeblichen Schornsteine. Wir konnten aber nicht auf dem Weg gehen, weil die Amerikaner patrouillierten und mit ihren Jeeps herumfuhren. Wir sind wieder quer durchgegangen, über Wiesen und Stacheldraht. Wir kamen auf einen Bauernhof, in einer Scheune war Stroh. Wir wollten uns etwas hinlegen und warten, bis es ein bißchen heller wird, damit wir sehen, wo wir überhaupt sind, denn sich nachts zu orientieren ist schwer. Wir wollten uns gerade hinlegen, hatten unser Gepäck hingeschmissen, da kam einer über den Hof und hat einen Sack auf dem Rücken. Er war ganz erschrocken: „Ich nur ein bißchen Korn holen.“ Da war das ein Fremdarbeiter, der sich ein bißchen mit Korn versorgen wollte. Ich sagte: „Du brauchst keine Bange zu haben. Ich will Dir nichts tun. Wo ist denn Friedrichshorst?“ Gleich da unten“, sagte er. Jetzt wußte ich Bescheid. Ich kann Ihnen heute noch den Bauernhof zeigen. wo wir gewesen sind. Wieder aufgepackt, um die Fabrik, schnell ein Stück über die Straße und da war der Bauernhof, wo meine Schwiegermutter wohnte. Wir haben ans Fenster geklopft und die wären fast aus dem Bett gefallen, als sie uns sahen. Mein Schwager war auch noch da. Wir sind 3-4 Tage da gewesen, aber länger konnten sie uns auch nicht behalten. Sie hatten auch nicht so viel zu essen, was drei große Kerle brauchten. Am nächsten Tag haben wir unsere Uniformen auf „Zivil“ getrimmt: Paspelierung runter, Knöpfe abgeschnitten. Meine Schwägerin hatte einen großen Kessel, wo sie Wäsche drin kochte, alles reingepackt und schwarze Farbe reingetan. Sie war noch nicht ganz fertig, da kommt sie rein und sagt: „Wir werden kontrolliert.“ Dieser Bauernhof war vom Zementwerk für die Arbeiter als Wohnung ausgebaut worden. Meine Schwiegermutter wohnte im Nebengebäude, das waren früher Stallungen gewesen. Manchmal hat der Mensch mehr Glück als Verstand. Sie kontrollierten nur im Hauptgebäude und gingen vorbei. Mein Schwager hat uns Arbeitsanzüge gegeben und wir haben beraten, was zu machen war. Für die anderen beiden war es schlecht, der eine war ein Sudetendeutscher und der andere war aus Schlesien. Der aus Schlesien war der Schneider, den haben sie bei der Kompanie sowieso immer verarscht, der war immer der Trottel, der konnte sich sowieso nicht helfen und der Sudetendeutsche sagte: „Ich gehe Richtung Süden. Ich will lieber bei den Amerikanern in Gefangenschaft kommen.“ Wo der andere geblieben ist, weiß ich nicht. Dann ist mir noch etwas Schönes passiert mit dem Ausweis: Ich komme zu Fuß von Oelde rauf an der Gaststätte vorbei. Auf der Straße steht ein amerikanischer Posten und gegenüber – da stand früher so ein kleines Haus mit einer Laube dran – da saß noch ein Amerikaner und ein hübsches Mädchen dabei. Die Beiden waren am Tändeln und am Poussieren. Ich komme an dem Wachhabenden vorbei, er stand mitten auf der Straße und sagte: „Halt, Dokument!“ Ich hatte ja kein Dokument. „Wo kommst du her?“ Da fiel mir ein, der will den Ausweis. Ich habe ihm den Ausweis gezeigt. Er konnte ja nicht lesen, schrie immer zu dem Posten rüber, der vor dem Haus saß, das mußte wohl ein Dolmetscher sein, er solle kommen. Aber der störte sich nicht daran, der hatte etwas Besseres zu tun. Der Wachhabende wurde wütend: „Hier hast Du Deinen Ausweis. Ab!“ Gott sei – Dank. Wieder hatte ich Glück gehabt. Wenn uns einer unterwegs gefaßt hätte, wir wären fällig gewesen. Dann bin ich nach Rheda marschiert. Ich war frühzeitig in Rheda. Als ich nach Rheda kam und mir das ansah, da waren die Leute, die bei mir Haussuchung gemacht hatten, auf einmal Hilfspolizisten bei den Amerikanern. Hatten alle eine weiße Binde um. Jetzt war aber noch kein Frieden. Wenn mich einer in die Pfanne gehauen hätte, hätten die Amerikaner gesagt: „Du bist doch Soldat.“ Frieden war erst am 8. Mai und das war Anfang April. Es kam ein Kumpel vom ehemaligen Arbeitersportverein und sagte: „komm, jetzt wollen wir erst einmal sehen, daß wir die Brüder da rauskriegen.“ Wir sind zu den Amerikanern gegangen, und dann haben sie andere als Hilfspolizisten genommen. Ich war auch dabei. Die Amerikaner wußten gar nicht, daß ich noch Soldat war. Auf dem Schloß in Rheda war vorher – bevor die Amerikaner kamen – die militärische Abwehr. Die Dolmetscherin, die dort gearbeitet hatte, war jetzt bei den Amerikanern, damit die sich verständigen konnten. Bei oder in der Gaststätte Schalück war der berühmte Sender für die Luftabwehr (Primadonna). Wenn man über die Ems fährt (an der Tankstelle) liegt dort eine Villa, die steht auf einem Bunker. Da war eine Befehlszentrale der Nazis. Überall lagen dicke Kabel, vom Sender runter und wenn irgend etwas los war, kam es durchs Radio. Die Nachrichtenzentrale lag hier. Die Dolmetscherin hat uns dann schon mal gesagt, wenn etwas durch die Amerikaner „im Busch“ war. Nach und nach kamen noch mehrere, die das Soldat sein satt hatten, nicht mehr Soldat sein wollten. Ich kann sagen: „Ich bin auch ein Deserteur.“ Aber sollte ich denn so blöd sein, nach Bünde in Westfalen zu gehen? Wenn man heute überlegt, da hat man schon etwas riskiert.